... Alles anders! Die Wirtschaft ist stark. Deutschland wurde 2018 zum dritten Mal in Folge Exportweltmeister: Es hat Produkte im Wert von circa 265 Milliarden Euro mehr exportiert als importiert, hat das Ifo-Institut festgestellt.
Die Zahl der Arbeitslosen ist so klein wie seit Anfang der 90er-Jahre nicht mehr. Die Universitäten sind bei deutschen und internationalen Studenten so populär wie noch nie. Und plötzlich ist Deutschland auch noch Innovationsweltmeister!
Während die meisten Deutschen ihr Land auch heute kritisch sehen, lobt das Weltwirtschaftsforum (WEF) seine Stärke. Es hat festgestellt: In keinem anderen Land gibt es so gute Möglichkeiten, aus innovativen Ideen erfolgreiche Projekte und Produkte zu machen. Das WEF lobt speziell die Forschungsinstitute und die hohe Zahl von angemeldeten Patenten. Positiv fiel den Experten auch die große Zufriedenheit der internationalen Kunden mit deutschen Produkten auf. Und das hat Konsequenzen für die Innovationsfreude der Ingenieure und Entwickler, finden sie.
Nicht wenige Deutsche fragen sich da: Wie ist das möglich? Eine Erklärung für das Phänomen könnte von einem alten Sprichwort kommen: „Not macht erfinderisch.“ Denn die Basis für den aktuellen Erfolg Deutschlands ist in zwei Notsituationen während der letzten 20 Jahre gelegt worden.
Da waren erstens die Arbeitsmarktund Sozialstaatsreformen der Regierung Schröder. Ein Teil dieser Reformen, besser bekannt als „Hartz IV“, ist zwar bei vielen Deutschen unpopulär. Aber viele Wirtschaftsexperten glauben: Die Reformen halfen sehr, aus dem Kranken einen Gesunden zu machen.
Der „kranke Mann Europas“ von vor 20 Jahren ist heute Innovationsweltmeister.
Zweitens ist Deutschland stabil durch die Finanz- und Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2008 gekommen. Mehr noch: Erst als Reaktion auf die Krise wurde Deutschland so innovativ, glaubt der Ökonom Julian Kawohl. „So um 2010 herum begannen plötzlich viele Unternehmen, aus allen Rohren zu feuern in Sachen Digitalisierung, Start-ups, Innovationslabore, Wagniskapital.“
In der Krise verkauften sich die Autos und Maschinen deutscher Firmen nicht mehr so gut. Viele große Unternehmen, die vor allem vom Export ihrer Produkte leben, investierten plötzlich viel stärker in wirklich neue Produkte.
Traditionell ist den Deutschen Sicherheit sehr wichtig. Inzwischen aber akzeptieren sie, wenn junge Menschen ins Risiko gehen. Viele Absolventen gründen aus der Universität heraus Firmen. „In Deutschland herrscht seit einigen Jahren wieder eine Gründermentalität“, sagt Joachim Henkel, Professor für Innovationsmanagement an der Technischen Universität (TU) München.
Henkel kennt viele positive Beispiele von TU-Absolventen, die diesen Weg gegangen sind. Ihnen hilft auch eine neue Kooperationsmentalität traditioneller Firmen. Die einen haben die Ideen, die anderen das Geld. Die externen Innovationen werden dann in Produktionsprozesse der Firmen integriert. Innovationscoach Nikola Bachfischer glaubt, dass die Unternehmen erfolgreich bleiben werden, „die beide Welten miteinander verbinden“.
Auch noch nicht zu Ende Gedachtes hat plötzlich einen Wert. Früher zeigten junge Ingenieure ihre Produkte erst dann ihren Chefs, wenn sie fertig waren. Heute ist oft jede Idee willkommen – das Team schaut dann, was es daraus macht. So können lukrative Kooperationen entstehen.
Außerdem investieren Arbeitgeber in die Kreativität ihrer Angestellten. Viele Unternehmer schicken ihre Leute zu „Design Thinking“- oder „Design Sprint“-Kursen. Sie bieten „Creative Lounges“ und „Chillout Areas“ und am besten noch ein großes Sportangebot auf dem Firmengelände an. So bekommt das Team den Kopf frei. Und plötzlich kommen neue Ideen, die Kollegen im Idealfall gleich realisieren können.
Viele Firmen haben inzwischen erkannt, dass sie Ideen nicht erzwingen können in langen „Sitzungen“, „Meetings“ oder beim geplanten „Brainstorming“, hat Joachim Funke, Psychologieprofessor der Universität Heidelberg, festgestellt. Kreativität braucht Raum und Zeit. So ist ein Spaziergang während der Arbeitszeit keine verlorene Zeit, sondern eine ideale Möglichkeit, um gute Ideen zu entwickeln. „Kreativität entsteht durch das Abweichen von festen Regeln“, sagt Funke. Wer die Kreativität seiner Angestellten braucht, lässt sie deshalb am besten arbeiten, wann und wo sie wollen. Innovationscoach Bachfischer empfiehlt aber, die Ideen immer wieder mal zu sammeln. Außerdem braucht es den Mut, von manchen Ideen loszulassen.
Erst als Reaktion auf die Wirtschaftskrise wurde Deutschland so innovativ.
Auch die Politik hat das Thema Innovation inzwischen für sich entdeckt und fördert neue „Experimentierräume“ für Wissenschaft, Wirtschaft und weitere Interessengruppen. Das Ziel: neue Prozesse zu unterstützen, die der ganzen Gesellschaft Vorteile bringen. Während vor allem Städte wie Berlin, Hamburg, München und Stuttgart seit langem als Innovationszentren gelten, sollen in Zukunft auch ländliche Regionen von neuen Entwicklungen profitieren. „Meine Vision ist, dass im ländlichen Raum wieder ganz neue Keimzellen der Innovation entstehen, vielleicht 30 bis 50 Kilometer außerhalb der heutigen Hotspots, wo sich die nächste Generation wegen günstiger Lebenshaltung und hoher Lebensqualität zusammenfindet und Unternehmen von morgen gründet“, sagt Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Neue „InnovationsCenter“ auf kommunaler Ebene sollen helfen, die weißen Stellen auf der Karte mit Farbe zu füllen. Die Politik hat erkannt, dass sie vor allem die Innovationskraft kleiner und mittelgroßer Unternehmen stärken muss. Sie kann sich nicht nur auf die Großen verlassen, glaubt auch der Berliner Ökonom Julian Kawohl. In einer aktuellen Untersuchung konnte er bei 600 der 1000 wichtigsten deutschen Firmen „gar keine Innovationsaktivitäten identifizieren“. So sind insgesamt nur 4,5 Prozent der Großunternehmen sehr aktiv. In einer Zeit, in der viele Experten eine neue internationale Wirtschaftskrise kommen sehen, halten sich deutsche Firmen mit Investitionen in neue Technik zurück.
Statt aber Innovationslabore zu schließen, sollten Politik und Wirtschaft dauerhaft in die digitale Infrastruktur und in Bildungsangebote investieren – und das schon bei Kindern, besonders auch Mädchen. Das fordert die Innovationsforscherin Ulrike Busolt von der Hochschule Furtwangen: „Es muss schon im Kindergarten damit angefangen werden, Mädchen für Naturwissenschaften zu gewinnen.“ Nach Informationen des Deutschen Patent- und Markenamtes haben Frauen 2017 nämlich nur etwas mehr als sechs Prozent der Patente angemeldet.
Inzwischen versuchen viele Programme, Mädchen für Technikberufe zu begeistern. Mit Erfolg: Die Zahl der Frauen, die Mathematik, Informatik, eine Naturwissenschaft oder Technik studieren, hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt, auf inzwischen 25 Prozent. Hält der Trend, kann sich Deutschland vielleicht bald wieder als Innovationsweltmeister feiern lassen.
Foto: Jan von Holleben