Der PISA-Schock zu Beginn der 2000er hatte vielfältige Auswirkungen auf die Entwicklung des deutschen Bildungssystems. Nicht zuletzt gerieten die Basiskompetenzen verstärkt in den Blick. Fertigkeiten, die Schule und Unterricht gerade in den Sekundarstufen bis dahin stillschweigend als weitgehend gegeben vorausgesetzt hatten, wurden in ihrer Bedeutung plötzlich diskutiert und neu bewertet. Hierzu gehörten insbesondere auch die sprachlichen Fertigkeiten, die viele Lernhandlungen überhaupt erst ermöglichen, z. B. das Erkennen und Befolgen von Arbeitsanweisungen, die Kenntnis von Fachbegriffen, die Formulierung sowie das Verständnis naturwissenschaftlicher Regeln.
Sprache ist ein Schlüssel zu erfolgreicher schulischer Bildung.
Schon Wilhelm von Humboldt formulierte im 19. Jahrhundert, dass die Sprache der »Schlüssel zur Welt« und damit unabdingbar für die Entwicklung des Denkens, des Verstehens und des Lernens sei. Mittlerweile ist klar: Sprache ist ein Schlüssel zu erfolgreicher schulischer Bildung. Wenn Kinder und Jugendliche Fachtexte nicht erschließen können, weil sie Fachbegriffe und -konzepte sprachlich nicht erfassen oder Arbeitsaufträge nicht verstehen, fehlt eine zentrale Gelingensbedingung für die Erbringung der geforderten schulischen Leistungen. Die Beziehung zwischen Sprachfertigkeiten und dem Schulerfolg ist mittlerweile umfangreich herausgearbeitet worden, und es steht fest: Sprachliche Kompetenz und fachliche Leistungen hängen eng zusammen (vgl. z. B. Juska-Bacher/Nodari 2016).
Weil dies so ist, muss Sprache ein integrales Element des Fachunterrichts in den Sekundarstufen sein. Das bedeutet, dass sie nicht nur – stillschweigend als gegeben vorausgesetzt – Lernmedium ist, sondern immer wieder auch expliziter Lerngegenstand sein muss. Fachunterricht ist also immer auch Sprachunterricht, die Fachlehrkraft ist auch Sprachlehrkraft. Um diese grundlegende Forderung didaktisch und methodisch zu untermauern, haben sich in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion mittlerweile unterschiedliche Ansätze herausgebildet: Die Rede ist von sprachsensiblem Unterricht, durchgängiger Sprachbildung, sprachbewusstem Fachunterricht, sprachaufmerksamem Fachunterricht, oder es wird gefordert, die Bildungssprache zu stärken. Was verbindet diese Begrifflichkeiten, was unterscheidet sie?
Viele Wege, ein Ziel
Der Begriff sprachsensibler Fachunterricht wurde von Josef Leisen Anfang der 1990er-Jahre geprägt. Leisen übertrug im Kontext von Migration Ansätze und Methoden seines deutschsprachigen Fachunterrichts an deutschen Auslandsschulen (DFU) auf die Arbeit im Fachunterricht von Schulen im Inland (vgl. Leisen 2013). Dabei ging es nicht um einen Unterricht im Sinne von Deutsch als Zweitsprache (DaZ), sondern um einen bewussten Umgang mit der Unterrichtssprache im Rahmen eines integrativen Sprachförderkonzepts.
Der Begriff sprachsensibler Fachunterricht hat sich, gerade auch durch die entsprechende Website Leisens (www.sprachsensiblerfachunterricht. de) sowie durch seine Publikationsund Vortragstätigkeit, etabliert und in Teilen verselbstständigt (vgl. hierzu auch Röttger 2019). Daneben entstanden weitere Begriffe. Während der in Österreich gebräuchliche Begriff sprachaufmerksamer Fachunterricht bedeutungsgleich mit dem sprachsensiblen Fachunterricht ist, schwingt in dem Terminus sprachbewusster Fachunterricht die Vorstellung einer durchgängigen Sprachbildung mit und weist damit auf einen anderen Diskurs hin.
Im Jahr 2004 startete das Bund-Länder-Modellprogramm FörMig (»Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund«). Nicht zuletzt durch die PISA-Studie war es offenbar geworden, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den sozialen und ökonomischen Lebensumständen sowie den Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen. An diesem Zusammenhang, also im Themenkomplex »Bildungschancen und Mehrsprachigkeit«, setzte das Modellprogramm seinerzeit an. Im Rahmen dieses Programms entstand das Konzept der durchgängigen Sprachbildung mit dem Ziel, bei allen Schüler*innen systematisch bildungssprachliche Fähigkeiten zu entwickeln (vgl. Lange/Gogolin 2010, S. 14; Gogolin et al. 2013).
Alle Schüler*innen sollen systematisch bildungssprachliche Fähigkeiten entwickeln.
Alltagssprache und Bildungssprache
Der Ausdruck Bildungssprache wurde bei FörMig analog zu den Begrifflichkeiten aus der angloamerikanischen Diskussion gebildet. Die Forschungsfrage rund um das Konzept der Bildungssprache lautet: Was zeichnet die Sprache des (Fach-)Unterrichts und die auf sie bezogenen sprachlichen Fähigkeiten erfolgreicher Schülerinnen und Schüler aus? Die Frage wird in der Regel unter Rückgriff auf die von Jim Cummins schon Ende der 70er-Jahre entwickelte Unterscheidung zwischen der conversational und der academic language beantwortet. Bei der Bewältigung der Alltagssprache geht es um basic interpersonal communicative skills (BICS), in Bildungssituationen wird jedoch die cognitive academic language proficiency (CALP) benötigt (vgl. Cummins 2008). Cummins beschreibt damit im Prinzip zwei unterschiedliche Register, über die ein Sprecher verfügen muss, um in bestimmten Situationen erfolgreich kommunizieren zu können.
Etwas fassbarer wird diese Unterscheidung durch das Modell der sprachlichen Nähe und Distanz (vgl. Koch/Oesterreicher 1986). In Anlehnung an dieses Modell spricht man mit Blick auf die Bildungssprache von konzeptioneller Schriftlichkeit in Abgrenzung zur konzeptionellen Mündlichkeit. Während die Kommunikationsbedingungen konzeptioneller Mündlichkeit geprägt sind vom Dialog, von Nähe, Privatsphäre, Spontaneität sowie Emotionalität, ist die konzeptionelle Schriftlichkeit charakterisiert durch den Monolog, die Distanz zum Partner, eine Themenorientierung sowie die Versachlichung (vgl. für Weiteres auch Riebling 2013). Die Bildungssprache ist damit nicht nur geprägt vom Fachvokabular eines jeden Fachs: Sie hat neben einer lexikalisch-semantischen auch eine pragmatisch-diskursive, eine phonetisch-phonologische, eine prosodische sowie eine metasprachliche Ebene (vgl. Feilke 2012; Selimi 2016). Das bedeutet: Bildungssprache verwendet bestimmte Satzbaumuster, stellt Anforderungen an die Aussprache, und sie erfordert ein anderes Gesprächsverhalten als die Alltagssprache. Im Begriff der Bildungssprache schwingt daher auch das Konzept des Habitus mit. Die Beherrschung der Bildungssprache wird so zu einem Teil des kulturellen Kapitals (vgl. Bourdieu 2015), das mitentscheidend ist für Lebenschancen. Das bedeutet, dass die Entwicklung der bildungssprachlichen Fertigkeiten, also die Förderung eines bildungssprachlichen Habitus, zu einem wichtigen Mittel wird, um Teilhabe an Gesellschaft und Chancengerechtigkeit zu sichern (vgl. auch El-Mafaalani 2020).
Was verbindet nun die Ansätze des sprachsensiblen Unterrichts und der durchgängigen Sprachbildung? Und was bedeutet das eigentlich für den Unterricht? Bei allen Unterschieden in der Nuancierung der Ansätze geht es letztlich doch um das Gleiche: Sprache hat im Unterricht eine besondere Funktion. Sie ist gerade als Bildungssprache zugleich Lernmedium und Lerngegenstand. Wegen dieser besonderen Position ist ihre Beherrschung immer auch eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen (vgl. Roggatz 2017). Dies gilt übrigens keineswegs nur für Schüler*innen mit einer anderen Muttersprache, sondern für alle Schüler*innen. Prediger/Wessel (2018) können zeigen, dass ein sprachsensibler Fachunterricht allen Schüler*innen zugutekommt, also auch den sprachlich starken. Die gezielte Entwicklung der Bildungssprache muss demzufolge bei der Gestaltung von Fachunterricht stets bewusst mitgedacht werden. Dabei soll es nicht nur um eine Teilgruppe der Schülerinnen und Schüler gehen, sondern im Rahmen eines Ansatzes, der im Kontext eines mehrsprachigen Klassenzimmers (Krifka et al. 2014) inklusiv und chancengerecht ist, um alle Schülerinnen und Schüler, auch um Kinder, deren Erstsprache Deutsch ist. Der sprachsensible Fachunterricht mit dem Ziel der durchgängigen Sprachbildung soll eben nicht die Sprachförderung ersetzen, sondern bildet ein integratives Konzept, das als eine »gemeinsame Gestaltungsaufgabe aller Akteure« betrachtet werden muss (Röttger 2019, S. 97).
Die Beiträge des Schwerpunkts
Mit den Beiträgen in diesem Schwerpunkt wollen wir Ihnen möglichst vielfältige und konkrete Anregungen geben, wie sprachförderliche Elemente im oben genannten Sinne in den alltäglichen Fachunterricht integriert werden können. Selbst wenn manche der vorgestellten Methoden im Kontext eines bestimmten Faches vorgestellt werden, so haben wir jedoch Wert darauf gelegt, dass sie grundsätzlich auch auf andere Fächer übertragen werden können.
Im ersten Text geht es um eine zentrale Aufgabe bei der Entwicklung der Bildungs- und Fachsprache, nämlich den systematischen Auf- und Ausbau eines Fachwortschatzes. Piel stellt aus der Perspektive verschiedener Fächer einige einfache Methoden und Hilfen vor, mit denen neue Fachwörter kontextgebunden eingeübt werden können. Daran anknüpfend widmen sich Franken und Pertzel einer Tätigkeit, deren systematische Schulung im Fachunterricht oft vernachlässigt wird: dem Schreiben. Sie zeigen, wie Schreibaufgaben und gezielte Hilfen dazu beitragen können, die (fach‐)sprachlichen Kompetenzen weiterzuentwickeln.
Buschfeld wiederum nimmt eine andere Perspektive ein, indem er zu-nächst einmal zeigt, dass viele von Lehrkräften gestellte Aufgaben für die Schüler*innen erhebliche sprachliche Lernhindernisse enthalten. Auf dieser Grundlage zeigt er dann anhand einer systematischen Herangehensweise, wie sich diese Hindernisse weitgehend vermeiden lassen.
Guter Fachunterricht kann und sollte immer auch sprachförderliche Elemente enthalten.
In den folgenden drei Beiträgen werden sprachförderliche Methoden jeweils aus der Perspektive unterschiedlicher Fächer vorgestellt. Sie sind jedoch so ausgewählt worden, dass sie sich leicht auch auf andere Fächer übertragen lassen. So zeigen Telaar und Prediger anhand eines Beispiels aus dem Mathematikunterricht, wie sich die sprachlichen Kompetenzen der Schüler*innen über das Schreiben von Drehbüchern für Erklärvideos schulen lassen. Vogel gibt einen Einblick, wie im sprachsensiblen naturwissenschaftlichen Unterricht anhand von Alltagsmythen datenbasiertes Argumentieren erlernt werden kann. Und Brämer/Schlutow illustrieren die häufig verwendete Methode des Scaffoldings anhand eines konkreten Beispiels aus dem Geschichtsunterricht.
Im letzten Beitrag dieses Schwerpunkts berichten Gundermann und Wagner, wie die Vorbereitung eines Kurzvortrags für die Sprachförderung auch im schriftlichen Bereich genutzt werden kann.
Durch die große Breite der in diesem Schwerpunkt vertretenen Fächer und Methoden wird deutlich, dass der im Titel dieser Einführung vertretene Anspruch keine Überforderung bedeuten muss. Guter Fachunterricht kann und sollte immer auch sprachförderliche Elemente enthalten. Es erfordert keinen großen Aufwand, ist aber sehr ertragreich, gerade auch für das fachliche Lernen der Schüler*innen, den eigenen Unterricht bewusst sprachförderlich zu gestalten. ■
Dr. Jochen Schnack ist Referatsleiter in der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung sowie Leiter der Redaktion von PÄDAGOGIK. jochen.schnack@posteo.de
Hendrik Stammermann leitet das Referat »Sprachen« am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. hendrik.stammermann@li-hamburg.de
Literatur
Bourdieu, P. (2015): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1, hrsg. v. Margareta Steinrücke. Hamburg: VSA-Verlag.
Cummins, J. (2008): BICS und CALP: Empirical and Theoretical Status of the Distinction. In: Street, Brian/Hornberger, Nancy (Hrsg.) (2008): Encyclopedia of Language and Education. 2nd Ed., Vol. 2: Literacy. New York: Springer, S. 71–83.
Feilke, H. (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch, H. 233, S. 4–13.
El-Mafaalani, A. (2020): Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Gogolin, I. et al. (2013): Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert. Münster: Waxmann.
Juska-Bacher, B./Nodari, C. (2016): Sprachliche Voraussetzungen für den Schulerfolg. In: Babylonia 3/2015, S. 23–31.
Koch, P./Oesterreicher, W. (1986): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch Bd. 36/1986, S. 15–43.
Krifka, M. et al. (Hrsg.) (2014): Das mehrsprachige Klassenzimmer.
Über die Muttersprache unserer Schüler. Berlin: Springer-Verlag. Lange, I./Gogolin, I. (2010): Durchgängige Sprachbildung. Eine
Handreichung. Münster: Waxmann. Leisen, J. (2013): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. 2 Bde. Stuttgart: Klett.
Prediger, S./Wessel, L. (2018): Brauchen mehrsprachige Jugendliche eine andere fach- und sprachintegrierte Förderung als einsprachige? Differentielle Analysen zur Wirksamkeit zweier Interventionen in Mathematik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 21(2), S. 361–382.
Riebling, L. (2013): Heuristik der Bildungssprache. In: Gogolin et al. (2010), S. 106–153.
Roggatz, C. (2017): Sprache: Lernmedium und Lerngegenstand … aber auch: Lernvoraussetzung. In: Hamburg macht Schule 3/2017, S. 6–9.
Röttger, E. (2019): Sprachsensibler Fachunterricht: Versuch einer Standortbestimmung. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 1/2019, S. 87–105.
Selimi, N. (2016): Bildungssprache Deutsch und ihre Didaktik. Eine kompakte Einführung in Theorie und Praxis. Hohengehren: Schneider Verlag.