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Für seine Hobbys und auch für sein Studium hat Rückel allerdings aktuell nur wenig Zeit. Als einer der beiden Hauptdarsteller der Passionsspiele lernt er seit November seinen Text und probt für den Auftritt. Ab Mitte Mai wird er mit vielen anderen Oberammergauern die Leidensgeschichte Jesu auf die Bühne bringen: fast ein halbes Jahr lang, fünfmal die Woche.
Mehr als 2 100 der insgesamt 5 000 Einwohner des Ortes im Landkreis Garmisch wirken bei dem weltberühmten Laienstück mit. Darin auftreten darf nur, wer im Alpendorf geboren und aufgewachsen ist oder seit mindestens 20 Jahren dort wohnt. Ein Privileg, eine Ehre und vor allem eine uralte Tradition.
Die Passionsspiele gehen auf ein knapp 400 Jahre altes Gelübde zurück. 1633 wütete die Pest in Oberammergau. Zwar hatte sich der Ort zunächst weitgehend isoliert, aber dann brachte ein Tagelöhner, der sich heimlich zu seiner Familie schlich, den Schwarzen Tod mit in die kleine Gemeinde. Als 84 Menschen gestorben waren, traten die verzweifelten Ortsvorsteher vor das Kruzifix in der Pfarrkirche und gelobten, alle zehn Jahre ein Passionsspiel aufzuführen, wenn die Pest keine weiteren Opfer fordern würde. Der Legende nach kam die Seuche tatsächlich zum Stillstand und 1634 wurden auf einem einfachen Holzgerüst neben dem Friedhof die ersten Aufführungen inszeniert.
Inzwischen findet das Bibel- Spiel im denkmalgeschützten Passionsspielhaus statt. Es beginnt um 14.30 Uhr mit dem Einzug von Jesus in Jerusalem und endet um 22.30 Uhr mit der Auferstehung. Dazwischen gibt es eine dreistündige Pause, in der die rund 4 700 Zuschauer aus dem überdachten Freilufttheater zum Essen in die umliegenden Gasthäuser strömen und dann durch die Souvenirläden bummeln, um handgemachte Holzschnitzereien zu kaufen.
Rochus Rückel geht die Treppe zum Schneideratelier hoch. An den Kleiderständern entlang der Gänge hängen Hunderte Gewänder aus grobem Leinen. Mit Stecknadeln sind die Namen der Schauspieler angepinnt: M. Müller, H. Schmid, A. Preisinger. In den Kisten stapeln sich Ledersandalen in allen Größen, daneben liegen Schilde, Brustpanzer aus Messing und lange Lanzen. „Die Requisiten für die Römer“, erklärt Rochus Rückel. „Das sind bei uns besonders begehrte Rollen, weil man sich als Römer nicht die Haare wachsen lassen muss.“
Der Friseurbesuch ist tabu
Für alle anderen Mitwirkenden gilt seit Aschermittwoch der traditionelle „Haar- und Barterlass“: Friseurbesuche sind ab dann tabu. An diese Vorgabe muss sich auch Bürgermeister Andreas Rödl halten, der eine Rolle im Volk übernommen hat.
Wenn der CSU-Mann zur Gemeinderatssitzung geht, trägt er Rauschebart und lange Mähne zum dunkelblauen Business- Anzug. Wie eine Kombination aus Berliner Hipster und Räuber Hotzenplotz, attestieren ihm die Jugendlichen im Dorf.
Pfarrer Peter Sachi, der im Chor bei den Spielen mitsingt, erinnert dagegen aktuell eher an Herbert von Karajan. Wie der Dirigent kämmt er seine weißen Haare in einer eleganten Lockenwelle lässig zurück. Seinen Bart aber stutzt er weiterhin. Das sei ausnahmsweise erlaubt, erklärt er, denn auf einem glatt rasierten Gesicht liegt die FFP2-Maske dichter an. „Außerdem wächst mein Bart eh ziemlich schnell und bis zur Premiere ist ja noch etwas Zeit.“
Am 14. Mai 2022 sollen die 42. Oberammergauer Passionsspiele nun endlich beginnen. Wegen der Corona-Pandemie war die Aufführung um zwei Jahre verschoben worden – und auch im zweiten Anlauf gab es während der hohen Inzidenzen im Winter immer wieder Sorge, dass auch in diesem Jahr die Bühne leer bleiben würde.
Mit Zuversicht und auch mit ein wenig Demut werden jetzt die vor zwei Jahren säuberlich eingelagerten Requisiten wieder ausgepackt: Die aufwändig zusammengeklebten Flügel für die Engel, die Karren und die Tonkrüge, der Dornenkranz und der siebenarmige Leuchter, der beim letzten Abendmahl auf dem großen Tisch stehen wird. In wenigen Tagen beziehen außerdem ein paar Schafe, zwei Kamele und der katalanische Riesenesel Sancho auf der eingezäunten Weide hinter dem Festspielhaus ihr Quartier.
Passionen als Zeiteinheit
„Ich drücke uns so sehr die Daumen, dass dieses Mal alles gut geht“, sagt Eva-Maria Reiser, Darstellerin von Maria. In Oberammergau dreht sich das ganze Leben um die Passionsspiele. Nicht nur, weil dann eine halbe Million Zuschauer hier ihr Geld lassen (rund 30 Millionen Euro sollen es 2010 gewesen sein).
„Viel wichtiger finde ich, dass das Theater frische Gedanken und Ideen in unsere beschauliche Alpenwelt bringt“, erklärt die 38-Jährige. Die Flugbegleiterin hat bei der Lufthansa extra unbezahlten Urlaub genommen, um beim Spiel dabei zu sein. „Während der Proben sitzen wir oft zusammen und diskutieren mit dem Regisseur die Texte. Christian Stückl ist sonst Intendant am renommierten Münchner Volkstheater. Das ist ein interessanter Gesprächspartner.“ Auch der Austausch mit dem internationalen Publikum bringe neue Impulse.
Deswegen rechnen die Oberammergauer nicht in Jahren, sondern in Passionen: „Kurz vor der 1970er-Passion sind meine Eltern ins neue Haus eingezogen. Während der Passion im Jahr 2000 habe ich Abi gemacht. Unser Nachbarskind war schon 2010 als Baby dabei, sie müsste jetzt also zwölf sein …“
„Das Theater bringt frische Gedanken und Ideen in unsere beschauliche Welt
Eva-Maria Reiser freut sich auf den Austausch mit dem internationalen Publikum
Bürgermeister Andreas Rödl nickt. „Das Lied ‚Heil Dir‘, das das Volk beim Einzug singt, lernen die Kleinsten schon in der Kita“, sagt er. „Für die meisten von uns gehört es zu den Kindheitserinnerungen, barfuß, mit einem Palmwedel in der Hand, über die Bühne zu gehen. Dabei entstehen schon sehr früh Freundschaften.“
Und oft sogar noch ein bisschen mehr: Die Festspiele sind auch als Heiratsbörse bekannt. Rödls Eltern haben sich zum Beispiel während der 80er-Passion kennengelernt. 2010 stand er selbst als Römer, nur mit
Zahlen und Geschichte
In ihrer fast 400 Jahre alten Geschichte fielen die Passionsspiele nur dreimal aus – für Gesprächsstoff sorgen sie seit jeher
1633 gelobten die Oberammergauer, alle zehn Jahre das „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ aufzuführen.
1770 ließ Kurfürst Maximilian III. die Aufführung verbieten.Seine Begründung dafür:„Das größte Geheimnis unserer heiligen Religion gehört nun einmal nicht auf die Schaubühne.“
1940 befand sich Deutschland im Krieg, sodass die Spiele abgesagt wurden.
1871 besuchte Märchenkönig Ludwig II. eine Privat-Vorstellung und stiftete daraufhin der Gemeinde eine Skulptur, die „Kreuzigungsgruppe“. Zudem soll er Jesus und den Aposteln silberne Löffel überreicht haben, für Judas gab es nur einen Blechlöffel.
1990 bekam Carsten Lück als erster Evangelischer eine Hauptrolle ‐ damals sorgte das für hitzige Diskussionen. Zudem erstritten sich verheiratete Frauen und Frauen, die älter als 35 Jahre sind, vor Gericht das Recht, bei den Festspielen mitmachen zu dürfen (Oberammergauer Jungfernstreit). Eine andere alte Regel blieb bestehen: Teilnehmen darf nur, wer in Oberammergau geboren und aufgewachsen ist oder seit mindestens 20 Jahren im Dorf wohnt.
2020 mussten die Spiele aufgrund der Corona-Pandemie um zwei Jahre verschoben werden.
Seit 2014 zählt das wohl bekannteste Laienspiel der Welt zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO.
Lendenschurz bekleidet, bei der Aufführung neben einer schönen Herodesdienerin. Und vor vier Monaten sind Magdalena und Andreas Rödl zum ersten Mal Eltern geworden.
Kraftakt am Kreuz
Rochus Rückel drückt ein Schiebetor zur Seite und schaltet das Licht an. An der Wand lehnen, von einem dicken gelben Seil zusammengehalten, drei Kreuze. Jedes von ihnen ist sieben Meter lang und rund 70 Kilo schwer. „Die hat Benjamin Mayr gezimmert“, erklärt Rückel und streicht mit der Hand über das grau gestrichene Holz. Benni ist im echten Leben Schreiner und hilft beim Bau der Requisiten. „Gleichzeitig spielt er in diesem Jahr Dismas, der als einer der beiden Räuber neben mir hingerichtet wird. Das ist schon ein bisschen schräg.“
Gut 20 Minuten dauert die Kreuzigungsszene im Theaterspiel. Jesus und seine Leidensgenossen sind zwar mit Gurten gesichert, müssen sich aber mit eigener Kraft an zwei Knäufen am Kreuz festhalten und auf den schmalen Fußbrettchen balancieren. „Das ist wirklich anstrengend und häufig auch schrecklich kalt“, sagt Rochus Rückel. „Schließlich ist unser Festspielhaus ja eine Freilichtbühne, über die der Wind von den Bergen her pfeift.“
Als der Fotograf beim Fotoshooting vorschlägt, sich für ein letztes Bild auf das Kreuz zu setzen, lehnt Rückel freundlich, aber entschieden ab. „Das fühlt sich nicht richtig an“, sagt er ernst. Die Alten erzählen, dass früher immer wieder Zuschauer vor dem Jesus-Darsteller auf die Knie fielen, wenn sie ihm im Ort begegneten. „Von mir lässt sich zwar niemand mehr segnen, aber ich weiß, dass die Botschaft Jesu auch heute noch viele Menschen sehr bewegt.“
Rochus Rückel, selbst gläubiger Christ, spürt die Verantwortung – und mit der Pandemie ist dieses Gefühl noch intensiver geworden. „Die Corona-Pandemie hat uns alle verändert“, meint er. „Indem ich in meinem unmittelbaren Umfeld Krankheit, Einsamkeit und wirtschaftliche Not erlebt habe, haben viele Textstellen für mich eine ganz neue Bedeutung bekommen.“
„Bei den Spielen entstehen schon früh Freundschaften
Bürgermeister Andreas Rödl über das besondere Gemeinschaftsgefühl im Ort
Tipps für den Besuch der Festspiele
Karten für die 42. Oberammergauer Passionsspiele unbedingt hier kaufen:
www.passionsspieleoberammergau.de oder montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr unter
08 822 83 59 330
Achtung: Bei Zweitanbietern sind die Tickets oft um ein Vielfaches teurer.
Kosten: pro Person zwischen 30 und 180 Euro
Termin: 14. Mai bis 2. Oktober
Dauer: acht Stunden inklusive dreistündiger Pause. Am besten vorab schon einen Tisch im Restaurant reservieren.
Die meisten Gaststätten bieten dafür feste Drei-Gänge-Menüs an.
Mitbringen: Es ist erlaubt, in die Vorstellung Getränke bis 0,5 Liter mitzunehmen (bruchsicher, kein Glas). Sinnvoll ist es, Decke und Sitzkissen einzupacken, denn im Freilufttheater kann es kühl sein. Wer im Textbuch mitlesen möchte, braucht eine Leselampe.