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Was finden Sie furchteinflößender: den Moment, in dem Sie sich für einen neuen Krimi an Ihren Computer setzen, oder das Warten auf die ersten Kritiken?
(lacht) Ich würde sagen, es ist der Augenblick, wenn ich mit einem Buch anfange. Man weiß doch nie, ob man inspiriert ist. Handwerk ist das eine, aber die Ideen müssen auch fließen…
Viele Autoren siedeln ihre Thriller in einer „unbestimmten“ Zeit an, Ihr jüngster Roman „Die falsche Zeugin“ (Harper- Collins) spielt hingegen vor der bedrohlichen Kulisse der Corona-Pandemie.
Ja, Zeitlosigkeit interessiert mich nicht. Als ich im College war, las ich einen Roman über die Grippe-Pandemie von 1918, der sie auf eine menschliche Ebene hob. Etwas Ähnliches schwebte mir auch vor. Immerhin war und ist Covid etwas, das die ganze Menschheit betrifft, das wir alle gleichzeitig erleben. Wann gab es zuletzt ein Ereignis von solcher Tragweite? Ich wollte beim Schreiben einfangen, was all die Veränderungen, die wir tagtäglich am eigenen Leib zu spüren bekommen, mit uns machen – erst das Masketragen, dann die Lockdowns, plötzlich gab es Impfstoffe. Krimis sollten der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und den Lesern zeigen, was in der Welt vor sich geht.
War das Schreiben im Lockdown sehr viel anders als sonst? Schriftsteller arbeiten ja grundsätzlich eher einsam.
Das stimmt schon. Trotzdem hatte ich öfter Mühe, mich überhaupt aufzuraffen oder dann beim Schreiben zu konzentrieren. Eine meiner Schwestern bekam sehr früh Covid, was die Familie sehr belastet hat. Zum Glück ging es ihr schnell besser. Aber so viele Millionen Menschen sind daran gestorben, dieses Trauma wird uns noch lange begleiten, fürchte ich.
Apropos Pandemie: Ihr Roman „Die letzte Witwe“, der 2018 erschien, handelt von einer tödlichen Epidemie. Besitzen Sie hellseherische Fähigkeiten?
Nein. (lacht) Das ist wirklich nur ein makabrer Zufall – mir wäre im Traum nicht eingefallen, dass wir kurz danach etwas Ähnliches selbst erleben.
Am Puls der Zeit sind Sie auch mit der #MeToo-Thematik, die für die Story von „Die falsche Zeugin“ ganz entscheidend ist.
Ich finde es wichtig, Geschichten von Frauen zu erzählen, denen Böses widerfährt – denn nicht nur unterschwellig ist es immer noch so, dass die Gesellschaft Frauen und ihren Gefühlen, Erfahrungen und Traumata weniger Beachtung schenkt als Männern. Aber ich wollte darüber schreiben, was Gewalt und Missbrauch bei Frauen auslösen und was sie hinterlassen.
Gewalt gegen Frauen beherrscht das Krimigenre ja von Anfang an. Gerade zu Beginn Ihrer Karriere warfen Kritiker, Ihnen vor, wie drastisch sie Gewalt gegen Frauen schildern. Würden Sie heute manches anders schreiben?
Nein, ich glaube nicht. Es kommt doch immer darauf an, wie man diese Gewalt inszeniert. Ist sie verherrlichend, soll sie den Leser anmachen, auch in sexueller Hinsicht, weide ich mich als Autorin daran? Ich denke, dass ich in meinen Büchern deutlich mache, welche Auswirkungen Gewalt gegen Frauen hat. Mal abgesehen davon, dass Gewalt im wahren Leben auch dann geschieht, wenn nicht darüber gesprochen oder geschrieben würde.
Macht es Ihnen manchmal Angst zu wissen, zu welchen Gewaltfantasien Sie in der Lage sind?
Nein. (lacht)
Es existieren also keine düsteren Winkel in Ihrem Kopf oder Ihrem Herzen, die Sie lieber nicht ergründen?
Ach, ich denke, ich habe im Grunde sogar ein recht sonniges Gemüt. Als Ausgleich zur Gewalt in meinen Büchern enthalten sie ja fast immer auch eine Liebesgeschichte.
Ihre Kollegin Tess Gerritsen erklärt ihre Karriere als Krimiautorin mit einem Kindheitstrauma – eine Cousine von ihr wurde von einem Verwandten ermordet, als sie noch klein war. Was hat bei Ihnen die Leidenschaft für Mord und Totschlag ausgelöst?
Genau kann ich das gar nicht sagen. Ich habe ja schon als kleines Mädchen geschrieben – Krimis, in denen regelmäßig meine Schwestern umgebracht wurden. Ich wollte sie wohl loswerden. (lacht) Aber ein Grund ist mit Sicherheit, dass meine Großmutter von meinem Opa misshandelt wurde. In der Familie wussten alle Bescheid, aber es hieß immer nur: „Oma ist ganz schön ungeschickt“, wenn sie wieder blaue Flecken im Gesicht hatte. Ich war noch klein und habe selbst nichts von der Gewalt mitbekommen. Im Rückblick würde ich aber sagen, dass ich unbewusst auch für meine Oma schrieb und gegen das Vergessen und Schweigen, das sie wie so viele Opfer erlebt hat.
Lesen Sie selbst Krimis?
Und ob! (Siehe ihre Top-10-Liste im roten Kasten.) Aber auch True Crime, historische Romane, geschichtliche Sachbücher, eigentlich alles. Bloß mit Science-Fiction und Fantasy hab ich’s nicht so.
Top 10
Karin Slaughter liest für ihr Leben gern – auch Krimis. Hier verrät sie exklusiv in GRAZIA, welche Titel es ihr besonders angetan haben.
Flannery O’Connor:
„Keiner Menschenseele kann man noch trauen – Storys“
Sara Blaedel:
„The Undertaker’s Daughter“
Kate Atkinson:
„Die vierte Schwester“
Sarah Waters:
„Solange du lügst“
Lee Child:
alle „Jack Reacher“-Romane
Emma Donoghue:
„Das rote Band“
Mo Hayder:
„Tokio“
Gillian Flynn:
„Gone Girl“
Denise Mina:
„Schrei lauter, Maureen“
Alafair Burke:
„Die perfekte Schwester“
Ich kenne einige Frauen, die in Buchform die schlimmsten Geschichten ertragen können, aber wenn brutale Szenen auf der Leinwand oder im Fernsehen gezeigt werden, streiken sie. Woran liegt das?
Es ist eben ein Unterschied, ob man sich beim Lesen sein eigenes Kopf kino macht oder ob man Blut und Eingeweide fertig serviert bekommt. Geht mir genauso.
Interessanterweise besteht die Krimi-Leserschaft mehrheitlich aus Frauen.
Meine Vermutung ist, dass wir einfach gern über Menschen lesen, die furchtbare Dinge erleiden und gestärkt daraus hervorgehen.
Am 4. März startet bei Netflix die Serien-Verfilmung Ihres Thrillers „Ein Teil von ihr“ – die erste Karin-Slaughter- Adaption überhaupt. Wieso stand Hollywood so lange auf dem Schlauch? Immerhin haben Sie schon mehr als 70 Millionen Bücher weltweit verkauft.
Das müssen Sie die Produzenten fragen! (lacht) Ich durfte ein paarmal ans Set kommen und wurde von den Showrunnern stets auf dem Laufenden gehalten. Aber ansonsten war ich nicht involviert.
Es fiel Ihnen also leicht, Ihr „Kind“ in fremde Hände abzugeben?
Ach, eigentlich schon. Ich fand das Team großartig, die wussten, was sie taten. Und Hauptdarstellerin Toni Collette ist seit „Muriels Hochzeit“ ohnehin eine meiner Lieblingsschauspielerinnen.
Wird es weitere Verfilmungen geben?
Es sieht gut aus, da befindet sich einiges im Entwicklungsstadium.
Ihr Nachname Slaughter, also abschlachten, passt so gut, dass man ihn für eine Thrillerautorin nicht besser erfinden könnte.
Stimmt. Es gibt sogar noch Leute, die mir sagen, wie toll sie mein Pseudonym finden. Wenn die wüssten, wie sehr ich früher an der Highschool deshalb gehänselt wurde! Damals hat er mich oft genervt, aber mittlerweile passt der Name natürlich wunderbar. (lacht)
Ist die Welt ein gefährlicher Ort, insbesondere für Frauen?
Ja, leider. Trotzdem darf uns die Angst nicht beherrschen.
Werden wir es je erleben, dass Frauen sich keine Gedanken über brutale Männer, Vergewaltigung und Gewalt mehr machen müssen?
Da mache ich mir keine Illusionen. Aber Hoffnung macht mir, dass wir Frauen weibliche Opfer von schlimmen Verbrechen nicht mehr so vorschnell verurteilen, wie es früher oft der Fall war. Auch die Gesellschaft an sich ist auf einem guten Weg – Gewalt gegen Frauen wird nämlich nicht länger als unvermeidlich toleriert.
Interview: Kalle Schäfer