... meisten Fällen dasselbe Schicksal wie individuelle Vorsätze oder die allgegenwärtige Forderung nach Kooperation und Teamarbeit: Sie erleiden Schiffbruch auf dem halben Ozean zwischen Denken und Handeln.
Schule ist ein Gemeinschaftswerk
Zwar setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass der Bildungsund Erziehungsauftrag nicht nach Art der Einzelkämpfer erfüllt werden kann. Dennoch ist es noch ein gutes Stück Weg bis zu der Erkenntnis, dass die konkrete Schule ein Gemeinschaftswerk derer ist, die diese Schule tagtäglich realisieren. Politische, materielle und administrative Vorgaben sind nur das – leider allzu oft marode und desolate – Fundament, auf dem Lehrpersonal, Eltern und Schülerschaft ihre Schule bauen müssen. Selbst optimale Rahmenbedingungen machen noch keine gute Schule (genauso wenig wie eine gute Familie), sondern erst das stimmige Zusammenwirken vor dem gemeinsamen Wertehorizont der Akteure. Dazu gehören unter anderem die Sorge jeder einzelnen Lehrperson um den bestmöglichen Stand ihrer fachlichen und interaktionalen Qualifikation sowie die gemeinsame Anstrengung der Schulgemeinde für ein gutes und gesundes Lern- und Arbeitsklima.
Menschen sind »nicht-triviale« Systeme
Wer in einem sozialen Beruf arbeitet, erlebt immer wieder, dass Menschen »nicht-triviale«, offene Systeme sind, bei denen sich nicht sicher vorhersagen lässt, in welcher Weise sie reagieren, wenn man auf sie einwirkt – die beabsichtigten Wirkungen bleiben aus, verkehren sich in ihr Gegenteil oder es treten unbeabsichtigte Nebenwirkungen auf. Diese Personen sollten deshalb ihr professionelles Tun immer wieder systematisch überdenken. Das gilt besonders für Lehrpersonen, die in ihrer zentralen Tätigkeit, dem Unterricht, weitgehend autonom agieren können; nach ihrem Referendariat erleben sie kaum noch, dass jemand ihren Unterricht fachlich kompetent beurteilt. Das kann schnell zu blinden Flecken und Qualitätseinbußen, zu gesundheitlich und interaktional beeinträchtigenden Routinen führen. Dagegen ist Supervision ein Instrument der ersten Wahl, um neue Ideen oder Vorgehensweisen und andere soziale Lern- und Arbeitsformen zu erproben – eingebettet in ein kooperatives Grundverständnis des Kollegiums. Alternativ bieten sich auch Spielarten von Supervision an, z. B. Intervision, Kollegiale Fallberatung, Mentoring, Hospitation, Coaching, selbstorganisierte Start-ups zur gemeinsamen Erprobung.
Verpflichtende Supervision muss in der Schule arbeitszeitlich und organisatorisch verankert sein
Insofern wäre es nur konsequent, ein gewisses Kontingent an supervisorischen Arbeitsformen verpflichtend einzuführen. Dazu müssen die Gesellschaft, die Bildungspolitik und die Schulverwaltung einen Perspektivwechsel in Bezug auf Schule vornehmen: Kooperative Strukturen können nicht den Einzelnen aufgelastet werden, auch wenn die nach oben offene Arbeitszeit von Lehrerinnen und Lehrern dazu verführt. Verpflichtende Supervision muss in den Arbeitsabläufen von Schule arbeitszeitlich und organisatorisch verankert und wie die Teilnahme an Fortbildungen gewertet werden. Darüber hinaus müssen die Kosten für private Anbieter übernommen werden, wenn die Bildungsadministration entsprechende Ressourcen, z. B. Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, nicht bereitstellen kann.
Angesichts der restriktiven Bildungsfinanzierung kann dies zunächst vielleicht nur für Berufsanfänger und Seiteneinsteiger realisiert werden. Insbesondere für diese Personengruppe dürfte es sich positiv auf die Leistungsfähigkeit, Arbeitszufriedenheit und Gesundheit auswirken und zur Stabilität einer guten gesunden Schule beitragen. Ohne Investition in die Personen wird sich ein Bildungswesen, das den vielfältigen Ansprüchen gerecht werden soll, nicht erreichen und halten lassen. Denn dem anspruchsvollen Bildungs- und Erziehungsauftrag können Lehrerinnen und Lehrer nur nachkommen, wenn sie ihre personalen Kompetenzen immer wieder unter Anleitung und im kollegialen Austausch überprüfen und sich in ihrem Tun abstimmen.
Helmut Heyse ist Schulpsychologe und wurde 2001 mit dem »Projekt Lehrergesundheit Rheinland-Pfalz« beauftragt. Diesem Thema ist er treu geblieben, was zahlreiche Publikationen zur Lehrergesundheit dokumentieren.
KONTRA
Ich liebe Supervision – ein wunderbares Beratungsformat, um alles, was einen im Berufsalltag umtreibt, im geschützten Raum unter professioneller Begleitung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten zu können. Ich habe dieses Beratungssetting sehr früh in meiner Berufsbiografie kennenund schätzen gelernt und konnte so das Durcheinander an äußeren Erwartungen und innerem, selbst erzeugten Druck entwirren. Ich habe allerhöchsten Respekt vor den Lehrer*innen und ihrer Berufsleistung, was leider nicht selbstverständlich ist. Neulich berichtete mir eine Lehrerin, dass ihr Schulleiter das berüchtigte Zitat von Ex-Kanzler Schröder »Lehrer sind faule Säcke « auf sein eigenes Kollegium anwandte – und er meinte es ernst. Zahlreiche Untersuchungen zur Lehrer*innen-Gesundheit belegen, dass Lehrkräfte zu den am meisten belasteten Berufsgruppen gehören und die psychische Indikation an oberster Stelle steht (vgl. auch die Beiträge in der aktuellen PÄDAGOGIK-Serie »Lehrerbelastung«). Vor diesem Hintergrund vertrete ich die These, dass Schule ohne Supervision nicht mehr gedacht werden darf, denn diese ist eines der wirksamsten Mittel, um Lehrer*innen im Sinn einer salutogenetischen Prophylaxe zu unterstützen.
Supervision braucht Vertrauen und den Willen, etwas zu verändern
Supervision darf jedoch kein Zwangsinstrument werden. Sicherlich gibt es gute Argumente für eine verpflichtende Supervision, und man kann auf die seit langem funktionierende Praxis in der Sozialarbeit verweisen. Aber dort hatte man über hundert Jahre Zeit, um sich mit Supervision anzufreunden. Zwangssysteme verstärken die Abwehr! In Deutschland gibt es keine Kultur professioneller Beratung jenseits von Beurteilungskontexten. Man hält die Klassentür lieber verschlossen. So glaubt man vor unliebsamen Überraschungen sicher zu sein. Nach meiner Erfahrung wird Supervision nicht selten mit Angst vor Überwachung und Kontrolle, der Sorge, den Ansprüchen nicht zu genügen, verknüpft. Da ist die Befürchtung, dass vielleicht doch etwas »nach oben« durchsickert und man sich auf die Verschwiegenheit nicht wirklich verlassen kann. Andere assoziieren Supervision mit Versagen. Seit fast 20 Jahren arbeite ich mit Lehrkräften im Auftrag eines kirchlichen Anbieters. Etliche kommen zu uns, obwohl sie von ihrer Bezirksregierung kostenlos Supervision in Anspruch nehmen könnten. Sie nehmen Nachteile in Kauf, weil ihnen die Unabhängigkeit der Supervisor* innen wichtig ist. Mit einer verpflichtenden Supervision handelt man sich alle Probleme einer internen Supervision ein: Wie unabhängig sind die Supervisor*innen vom zu supervidierenden System? Wie sicher und geschützt ist das gesamte Setting? Wie wird die Gruppe zusammengesetzt?
Basierend auf den Forschungen Klaus Grawes und unter Einbeziehung der aktuellen Hirnforschung ist das Drei-Faktoren-Modell State of the Art, um die nachhaltige Wirksamkeit von Beratungsprozessen zu beschreiben: erstens die Vertrauensbeziehung zwischen Berater*in und Klient*in; zweitens die Suche nach Ressourcen und drittens das konkrete Einüben einer alternativen Praxis. Jegliche Beratungsarbeit, also auch Supervision, lebt von der Freiwilligkeit. Ohne die Bereitschaft, etwas zu verändern, sich mit seinen – auch unfertigen – Gedanken einzubringen, ohne das Vertrauen zum/r Supervisor* in und in die Sicherheit des Settings bleibt Supervision eine leere Hülle. Eine verpflichtende Supervision für alle 800 000 Lehrkräfte in Deutschland einzuführen wäre ein – nicht nur finanzielles – Mammutprojekt. Deshalb erscheint es mir realistischer und vom Selbstverständnis der Supervision her angemessener, niederschwellige Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Zugang zu Supervision erleichtern. So müsste es Lehrkräften möglich sein, ohne großen Zeitaufwand und mit geringer finanzieller Eigenbeteiligung auf Supervision zugreifen zu können.
Keine Pflicht, sondern ein Recht auf Supervision
Statt einer Pflicht zur Supervision fordere ich ein Recht auf Supervision, das Recht, an jeder Schule mit gleichgesinnten Kolleg*innen eine Supervisionsgruppe zu etablieren, einen Raum zur Verfügung gestellt zu bekommen, zeitlich dafür freigestellt zu werden und sich eine*n externe*n Supervisor*in suchen zu dürfen. Denn – da bin ich mir sicher – die guten Erfahrungen der Kolleg*innen würden »Schule machen «. Oft höre ich von den Supervisand* innen: »Warum habe ich das nicht schon eher gemacht?«
Dr. Meinfried Jetzschke ist Supervisor und Dozent in der Lehrerfort- und -weiterbildung am Pädagogischen Institut der Evangelischen Kirche von Westfalen in Schwerte-Villigst.