... Männer. Oft sind die Patienten zwischen 45 und 50 Jahre alt, wenn die Diagnose gestellt wird. Grundsätzlich kann MS aber sowohl in der Jugend als auch im höheren Alter ausbrechen – und das ganz plötzlich.
So war es bei Heike Führ. Die 59-Jährige wachte eines Morgens auf und war auf dem linken Auge blind. „Ein MRT zeigte weiße Stellen in meinem Gehirn. Typisch für MS, wie ich danach erfuhr“, erzählt die gelernte Erzieherin aus Mainz.
Das war vor fast 30 Jahren. „Von meinem Arzt gab es damals weder Mitgefühl noch viel Aufklärung. Dabei hatte ich unzählige Fragen“, erinnert sich Heike Führ – etwa danach, wie die Krankheit überhaupt entstehen konnte.
Die Ursache ist oft unklar
„Nach den genauen Auslösern wird bis heute geforscht“, sagt Prof. Judith Haas, Vorstand der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Die Gene spielen dabei wahrscheinlich eine Rolle, aber auch der Wohnort, wie Studien zeigen.
Denn anscheinend steigt die Zahl der Erkrankungen mit der geografischen Entfernung vom Äquator an – fehlendes Sonnenlicht könnte also eine Ursache sein. Weitere potenzielle Faktoren sind: Virus-Infektionen Übergewicht Stress.
Einen anderen möglichen MS-Auslöser entdeckten Forscher erst vor Kurzem. „Das sogenannte Epstein-Barr-Virus, der Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers, ist wohl an der Entstehung der Krankheit beteiligt, wie genau, muss aber noch untersucht werden“, so die Expertin Prof. Haas. Was allerdings feststeht: „Bei keiner anderen neurologischen Erkrankung gab es in letzter Zeit so viel Fortschritt, Hoffnung und positive Entwicklung“, betont der Mediziner Prof. Heinz Wiendl. Daher bedeutet die Diagnose MS heute nicht mehr, irgendwann im Rollstuhl sitzen zu müssen. Das war vor rund 20 Jahren noch anders. „Bis Mitte der Neunzigerjahre hielt man die Krankheit für nicht behandelbar“, sagt die Neurologin Prof. Judith Haas. Heute können die meisten Patienten dank neuer Therapien sehr lange ein fast normales Leben führen. Und die Lebenserwartung ist nicht mehr begrenzt.
Immunsystem außer Kontrolle: Das passiert bei MS im Körper
Gesunde Nervenfasern besitzen Zellkörper und werden von einer schützenden Schicht (Myelinscheide) ummantelt. Sie isoliert die Nervenfasern und sorgt dafür, dass Nervenimpulse bzw. elektrische Signale über Verbindungsstellen (Axonen) ungehindert vom Gehirn weitergeleitet werden. Bei Multipler Sklerose greifen körpereigene Abwehrzellen (Makrophage) fälschlicherweise die schützende Schicht der Nervenfasern an. Es kommt im Gehirn und im Rückenmark zu entzündlichen Herden (Plaque) und die Übertragung der Signale wird beeinträchtigt.
Neue Mittel gegen MS
Auch Heike Führ hatte Glück. Sie weiß zwar bis heute nicht genau, was der Grund dafür war, dass MS bei ihr ausbrach, doch ihre Sehkraft auf dem linken Auge kehrte nach nur drei Tagen wieder zurück. „Damals bekam ich hochdosiert Kortison“, erzählt die Mainzerin. „Andere Medikamente gab es nicht. Aber die Hauptsache war, dass es half.“ Fast zwölf Jahre lang machte sich die Krankheit bei ihr danach nicht mehr bemerkbar. „Ich hatte lediglich hin und wieder leichten Schwindel.“ Bis sich 2006 plötzlich ihre rechte Hand taub anfühlte und im MRT wieder Entzündungsherde zu sehen waren. „Ich wusste nun jedoch, dass es bessere Medikamente gibt. Das machte mich zuversichtlich.“ Dieses Mal erhielt Heike Führ wieder Kortison, aber zudem langfristig Interferon-Spritzen. Dieser neue Wirkstoff reguliert den Entzündungsprozess und verhindert die Angriffe der MS auf das zentrale Nervensystem im Gehirn (s. Infografik oben).
Aktuell gibt es in Deutschland 18 verschiedene MS-Präparate, die auch als Immun-Therapeutika bezeichnet werden. Sie alle wirken den Angriffen der Krankheit entgegen, um zu verhindern, dass MS-typische Beschwerden sich verschlimmern oder neu auftreten. Die häufigsten sind:
Brennen und Kribbeln in Armen und Beinen
Geringere Bewegungs-und Koordinationsfähigkeit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen
► Reizblase sowie Harn-und Stuhl-Inkontinenz
► Verschwommenes Sehen, ruckartige Augenbewegungen und Doppelbilder
► Starke Müdigkeit, Kraftund Antriebslosigkeit.
Treten solche Symptome für mindestens 24 Stunden auf, sprechen Ärzte von einem Schub. Er gehört zum Krankheitsbild von MS und markiert den Beginn, aber auch das Fortschreiten. Bei rund einem Drittel der Patienten beginnt die Erkrankung mit einer akuten Entzündung des Sehnervs wie bei Heike Führ. Wie lange es dauert, bis auf einen Schub der nächste folgt, ist sehr unterschiedlich. Das können wenige Wochen sein, aber auch mehrere Jahre. „Patienten, die von einem kurzfristig eingeschlafenen Bein berichten oder eine wenige Minuten andauernde Gefühlsstörung im Arm haben, kann ich bezüglich einer MS beruhigen – die Anzeichen für einen Schub sind sehr viel ausgeprägter und dauern mindestens einen Tag lang an“, erläutert die Neurologin und Ernährungs-Medizinerin Dr. Verena Leussink.
MS-Medikamente: Das sollten Sie wissen!
Wirksamkeit Bei MS unterscheiden Ärzte zwischen wirksamen und hochwirksamen Mitteln. Als Basis-Medikamente für normal starke Schübe gelten etwa Interferone. Monoklonale Antikörper wiederum sind für schwere Verläufe mit vielen Schüben gedacht.
Einnahme Ob Tablette, Spritze oder Infusion: MS-Medikamente gibt es in unterschiedlichen Formen. Mit Spritzpumpen (Injektomaten) können sich Patienten die Injektion per Knopfdruck selbst verabreichen. Nebenwirkungen Zu den häufigsten Begleiterscheinungen bei Interferonen gehören Hautreaktionen an der Injektionsstelle.
Grippe-Symptome wie Schnupfen und Fieber kommen vor allem zu Beginn einer medikamentösen Therapie vor und klingen meist von allein ab.
Effektive Therapien
Vielversprechende Behandlungs-Methoden, die bereits zum Einsatz kommen oder auf eine Zulassung in Deutschland warten
Stammzellen-Therapie
Das Immunsystem wird zuerst mit einer Chemotherapie ausgeschaltet und anschließend mit eigenen Stammzellen, die vorher entnommen wurden, wieder neu aufgebaut. Die körpereigene Abwehr greift dann die Nervenzellen im Gehirn nicht weiter an, die MS wird gestoppt. Wissenschaftler sehen den Nutzen einer risikoreichen Stammzell- Transplantation eher bei jüngeren Patienten mit aggressiver MS. In vielen europäischen Ländern (u. a. Italien, Frankreich, Holland, Großbritannien) wird die Therapie bereits vorgenommen. In Deutschland ist sie aber noch nicht zugelassen und somit auch keine Kassenleistung.
Plasma-Austausch
Funktioniert wie eine Blutwäsche. Über einen Venenzugang wird das Blut aus dem Körper geleitet. Die Botenstoffe und Antikörper, die MS-typische Entzündungen hervorrufen, werden herausgefiltert. Anschließend erhält der Patient per Infusion das gesäuberte Blut. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft rät zu dem Verfahren bei schweren Schüben und wenn eine Kortison-Behandlung nicht anschlägt oder vertragen wird. In Deutschland ist der Plasma-Austausch seit 20 Jahren verbreitet, kommt jedoch dank der Erfolge mit modernen Immuntherapien selten zum Einsatz. Die Kosten werden in der Regel übernommen.
Impfung
Eine neue Untersuchung deutet darauf hin, dass MS auch durch eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus ausgelöst werden kann. Ein mRNA-Impfstoff gegen den Erreger befindet sich derzeit in der klinischen Prüfung.
Antikörper-Therapie
Per (Selbst-)Injektion oder Tablette werden Antikörper verabreicht, mit denen sich das außer Kontrolle geratene Immunsystem in Schach halten lässt. Dies geschieht, indem Antikörper die Anzahl oder Aktivität der überaktiven Immunzellen unterdrücken oder den Immunzellen den Weg in das zentrale Nervensystem versperren.
„Es gibt Tage, da merkt man mir meine MS nicht an”
Heike Führ (59) hat die Nervenkrankheit seit 30 Jahren. Heute ist ihr Zustand stabil
Heilbar ist Multiple Sklerose nicht, doch es lassen sich immerhin die häufigsten Begleiterscheinungen gut behandeln und somit oft schwere Verläufe und Schübe verhindern. Beispielsweise kann bei Inkontinenz ein Blasentraining helfen. Dazu gehört etwa ein konkreter Trink-und Toilettenplan. Auch Botox ist sinnvoll: Es wird in den überaktiven Blasen-Muskel gespritzt und schwächt ihn für einen Zeitraum von mehreren Monaten. „Über Urinverlust zu sprechen – das fällt niemandem leicht. Daher ist ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis gerade bei MS-Erkrankungen extrem wichtig“, so Dr. Verena Leussink. Ihrer Erfahrung nach greift jede Therapie umso besser, je mehr Vertrauen da ist. „Früher war man bei MS tatsächlich abwartend und beobachtend. Heute reagieren wir Mediziner bei einer Diagnose sofort, um einer möglichen Verschlechterung zuvorzukommen. Dazu gehört auch alle sechs Monate ein MRT.“
Wieder zurück ins Leben
Behandelt wird die Erkrankung des Nervensystems vorwiegend mit Medikamenten, doch eine gesunde Ernährung (s. Kasten Seite 75) und regelmäßige Bewegung können die Symptome ebenfalls lindern. So hilft ein Funktionstraining den Patienten dabei, ihre Koordination und motorischen Fähigkeiten wieder zu verbessern.
„Zahlreiche Studien haben bestätigt, dass Menschen mit einer neurodegenerativen Erkrankung sehr von bewegungstherapeutischen Übungen profitieren“, sagt die Sportwissenschaftlerin Dr. Stephanie Woschek. Gruppen-Trainings finden bundesweit sowie online unter Leitung von Physiooder Ergotherapeuten statt. „Die meisten MS-Patienten berichten, dass sie durch den Sport wieder mehr Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit gewinnen“, sagt die Expertin.
„Eine Reha half mir nach der Diagnose aus der Lethargie”
Antje Mokroß (51) erkrankte wie schon ihr Vater an Multipler Sklerose
Das trifft auch auf die 51-jährige MS-Patientin Antje Mokroß zu. Sie erkrankte vor neun Jahren an MS. „Mein linkes Knie tat weh, mein rechter Fuß war völlig kraftlos und knickte oft weg“, so die Goldschmiedin aus Salzgitter. Als sie die Diagnose erhielt, wurden schmerzhafte Erinnerungen aus ihrer Kindheit wach. „Auch mein Vater hatte MS, war zuletzt bettlägerig und depressiv. Ich war daher anfangs in einer Schockstarre und musste mir immer wieder sagen: Ich bin nicht mein Vater.“ Erst eine dreiwöchige Reha holte sie aus ihrer Lethargie. „Es war wie ein Neustart!“ Die passionierte Reiterin hatte wieder Freude daran, sich zu bewegen. „Ich fand zurück in den Sattel – und ins Leben.“ Bis heute macht sie zudem einmal pro Woche ein MS-Funktionstraining.
Gezielte Übungen helfen
Zwei Schritte vor, drei zurück, die Arme dabei in unterschiedlicher Reihenfolge in verschiedene Richtungen strecken: „Bei solchen Übungen geht es darum, mit ungewohnten Bewegungen neue Nerven-Verknüpfungen im Gehirn herzustellen“, erklärt Dr. Woschek, „es werden Stoffe ausgeschüttet, die das Nervenwachstum und Regenerations-Prozesse begünstigen.“ Dank des Funktionstrainings gelang es Antje Mokroß, ihr rechtes Bein wieder stärker zu belasten und sogar die Schmerzen im linken Knie ließen nach.
Bewegung bringt’s!
Seit Oktober 2019 wird das Funktionstraining für MS-Erkrankte von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) angeboten. Hausärzte oder Neurologen können den Sport verschreiben, dann übernimmt die Kasse die Kosten. Alle Übungen werden an die jeweilige Kondition angepasst, auch Rollstuhlfahrer können mitmachen. Wegen der Corona-Pandemie finden die meisten Kurse noch vorwiegend online statt. Weitere Informationen unter www.dmsg.de (Stichwort „Multiple Sklerose“, „MS behandeln“ und dann „Funktionstraining“).
Wichtig: Während eines akuten Schubs keinen Sport machen!
2 Übungen für zu Hause
Intervall-Gehen
Dabei läuft man zwei Minuten schnell, eine Minute langsam oder umgekehrt, und das rund 20 Minuten lang.
Das Intervalltraining wirkt sich positiv auf Entzündungen im Körper aus. Auch die Gedächtnisleistung lässt sich so verbessern.
Gang-Training
Ob im Hausflur oder im Park, gehen Sie los, doch bitte anders als gewohnt, etwa mit extra kleinen Schritten, hochgezogenen Beinen, rückwärts – oder so, dass die Füße nach außen oder innen zeigen. Auf diese Weise lernt der Körper neue Abläufe kennen und kann sich von eingefahrenen Bewegungsmustern befreien.
Gute Nerven-Nahrung
Eine vegetarische Ernährung mit viel Obst und Gemüse kann die MS-Symptome reduzieren. Diese Lebensmittel sind besonders zu empfehlen:
• Kirschen, Aprikosen, säuerliche Äpfel (nicht schälen!) und Beerenobst stärken dank sekundärer Pflanzenstoffe wie Flavonoide das Immunsystem.
• Fetter Fisch wie Lachs, Hering, Makrele oder Sardinen sowie Leinöl, Walnüsse und Chia-Samen haben wertvolle Omega-3- Fettsäuren, die dabei helfen, Entzündungen zu blockieren.
• Frische Kräuter, täglich eine Handvoll bunt gemischt (z. B. Petersilie, Schnittlauch, Oregano, Majoran und Thymian), liefern Entzündungshemmer wie ätherische Öle, Gerbstoffe oder Glykoside.
• Vollkornprodukte (z. B. Brot, Nudeln, Müsli) enthalten viele Mineralstoffe und Spurenelemente wie Zink, Kupfer, Selen und Chrom, die als antientzündlich gelten.
Milch bitte nur in Maßen!
Manche Patienten mit MS klagen nach dem Konsum von Milchprodukten über stärkere Symptome. Mögliche Ursache laut einer Studie der Uni Bonn: Casein, ein Protein in der Kuhmilch – es kann Entzündungen auslösen, die wiederum die Schutzschicht der Nervenfasern im Gehirn zerstören.
Nahrungsergänzungsmittel mit Propionsäure können MS-Schübe abschwächen. Diese Fettsäure entsteht beim Verstoffwechseln von Ballaststoffen und reguliert die körpereigene Abwehr im Darm, dort sitzen ca. 80 Prozent der Immunzellen.
Auch MS-Patientin Heike Führ aus Mainz brauchte Zeit, um sich mit ihrer Krankheit zu arrangieren. Sie leidet bis heute immer wieder unter chronischer Müdigkeit, aber ihr Zustand gilt als stabil. Ihren Job als Erzieherin in einer Kindertagesstätte musste sie trotzdem bereits 2014 aufgeben.
Zeit für schöne Dinge
Doch untätig herumsitzen kam für die 59-Jährige nie infrage: „Ich habe irgendwann beschlossen, nicht mehr gegen meine Krankheit zu kämpfen, sondern meine Energie für die schönen Dinge im Leben aufzuheben.“ Sie begann, über ihren Alltag mit MS zu bloggen (www.multiple-arts.com). Und sie konzentriert sich auf ihre neue Rolle als Großmutter. „Es gibt Tage, da würde mir keiner die Krankheit anmerken. Dann gehe ich mit dem Hund raus, sitze am Laptop, treffe Freundinnen und spiele im Sandkasten mit meinem Enkelkind.
Das zeigt mir: Es geht immer irgendwie weiter, man sollte nur zuversichtlich bleiben.“
Elisabeth Hussendörfer
Hilfe finden
► In dem Forum „MS Connect“ können sich Betroffene austauschen und während der Online-Arztsprechstunden Fragen stellen. www.msconnect.de
► Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft informiert über Therapien, Selbsthilfegruppen und Symptome. www.dmsg.de