»Godspell« im amerikanischen Sommertheater in Pittsfield
Abb. oben: Die Zuschauer sitzen coronabedingt versetzt vor der Bühne
Ghost Lights säumen den Broadway und stehen in den Theatern der Vereinigten Staaten als Wachposten. Unter einem Zelt in der kleinen Stadt Pittsfield in den Hügeln von Berkshire im westlichen Massachusetts verwandelt sich das kollektive Glühen dieses Lichts in ein Feuer, das die Wiederbelebung des Musicals symbolisiert.
Die Berkshire Theatre Group (BTG), die im 91. Jahr das älteste Sommertheaterprogramm in Berkshire präsentiert, öffnet nach der Schließung der Broadway- Theater (am 18. März) nun wieder ihre Tore und zeigt eine Neuproduktion von »Godspell«, die erste von der Actors‘ Equity Association sanktionierte und vollständige Musikproduktion der USA.
»Godspell«, unter der einfallsreichen Regie von Alan Filderman, basiert auf den Lehren Jesu, wie sie im Matthäusevangelium erzählt werden. Diese entfalten nicht nur moralische Gleichnisse, sondern auch jene für die Pandemie. Der junge Cast, bestehend aus zehn Personen, die von unterschiedlicher Herkunft und Geschlecht sind, betritt maskiert die Bühne. Die Jünger werden angeführt von Jesus (Nicholas Edwards), der sich durch weiße Kleidung von ihren Blue-Jeans-Variationen abhebt (Kostüme: Hunter Kaczorowski). Nachdem die Darsteller ihren »sicher distanzierten Platz« eingenommen haben - einige von ihnen hinter hohen Plexiglaswänden - sprechen sie über ihre beruflichen und privaten Lebensträume und wie jene durch Covid-19 unterbrochen wurden. Diese Vorstellung erinnert an die berühmte Eröffnungszene der Originalinszenierung von »A Chorus Line«. Universelle menschliche Äußerungen von Wut, Angst, Einsamkeit, Rückzug, Verlassenheit, sowie ein Gefühl von Zerbrechlichkeit und Bedeutungslosigkeit sind der Quarantäne geschuldet. »Ich fürchte, meine Eltern mit Covid zu infizieren«, sagt ein Castmitglied. »Ich habe meinen Job verloren … und die aufkommenden Gefühle haben mich rückfällig werden lassen«, gibt ein anderer zu. Den Doppelschlag aus Covid und dem Mord an George Floyd kommentiert ein anderer: »Wer nicht ›Black Live Matters‹ schreit, leugnet dies … ich bin den Rassismus leid.« Die Stimmen vereinen sich zu einer rauen Kakophonie (Abfolge von unangenehm klingenden Lauten). Ein Signalhorn ertönt - die erste Note der Produktion durchdringt die Luft. Dieses »Godspell« ist nicht die volkstümliche Wohlfühl-Version des Neuen Testaments, wie sie 1971 erstmals am Off-Broadway aufgeführt wurde, sondern von der aktuellen Corona-Situation geprägt.
Das Originalbuch von John-Michael Tebelak scheint die Produktionen von »Godspell« zu erschweren: Die von Folk und Pop beeinflusste Partitur des aufstrebenden Stephen Schwartz, der »Pippin« und den großen internationalen Hit »Wicked« komponierte, verleiht dem Ganzen Esprit. Bei BTG haben Filderman und sein Team das Originalbuch mit zeitgenössischen Referenzen gespickt: Zoom-Anrufen, Walmart, 1.200 US-Dollar Konjunkturanreiz-Zahlungen (im Original: Stimulus-Checks) und Manövern wie Ellbogenberührungen zur Begrüßung. Demnach ist die Frage eines Schülers: »Warum backe ich in der Quarantäne grundlos Sauerteigbrot?« der heutigen Zeit geschuldet. Einige Erzählstränge sind improvisiert: In der besuchten Vorstellung präsentierte sich Brandon Lee als Zweitbesetzung seinen Kollegen humorvoll mit den Worten: »Seid nett. Ich tue dies zum ersten Mal.«
So sehr diese Improvisationen das Buch auflockern, ist es angesichts der von Actors‘ Equity eingeführten Sicherheitsvorkehrungen erstaunlich, dass Fildermans Bühnenabläufe so flüssig funktionieren.
Die breite Bühne, die im Hintergrund den Schriftzug »Gott ist Liebe ist LIEBE ist Gott« (im Original: »God is love IS LOVE is God) erkennen lässt, bietet auf fünf leicht erhöhten Plattformen mit jeweils unterschiedlich gestalteten Stühlen Platz für fünf Darsteller. Das Bühnenbild von Randall Parsons ist eine Tour de Force, die zeigt, wie Design unnatürliche Einschränkungen überwinden kann.
Wenn sich ein Darsteller von seinem angestammten Platz zu einem anderen bewegt, ist dies logistisch so gestaltet, dass der Abstand von mindestens 1,50 m zum nächsten Darsteller eingehalten werden kann. Das klingt unbeholfen, ist es aber nicht: Klugheit geht vor. Am witzigsten erweist sich hier in der Regie und Choreographie (Gerry McIntyre) im ersten Akt ›All For the Best‹, ein Duett, in dem Jesus seinem Erzfeind Judas (Tim Jones) begegnet. Auf der gegenüberliegenden Bühnenseite kommen Handdesinfektionsmittel zum Einsatz, Strohhüte werden aufgesetzt und blaue Latexhandschuhe angezogen. Anstelle von Tanzstöcken werden Messstäbe genutzt. Wenn sich die Darsteller näher kommen, nutzen sie die Zollstöcke (an die Nase gehalten) zum Einhalten des Sicherheitsabstands. Die 1,50 m sichere Distanz zwischen ihnen ist im wahrsten Sinn des Wortes gewährleistet, während gelungen eine klassische Musical-Routine mit Bob-Fosse-Effekten ausgeführt wird.
Die Band ist sparsam besetzt: Keyboard, Gitarre und Schlagzeug. Der Gesang, durch den sich die Darsteller auszeichnen, wird durch die neue musikalischen Arrangements der bekannten Musik belebt. ›Day by Day‹, die beliebteste Melodie der Show, erstrahlt in einer neuen, zweisprachigen Version mit Spanisch, der Muttersprache von Isabel Jordan, die mit ihrer Performance ihr lateinamerikanisches Erbe präsentiert. Einige von Tebelaks Originalzeilen werden durch eine Hand-Fuß-A-Capella-Percussion des Ensembles untermalt. Die schöne Hymne ›All Good Gifts‹ (Najah Hetsberger) wird vom Ensemblegesang unterstrichen. Doch der Show-Stopper im ersten Akt geht an eine freche Kimberley Immanuel, die eine Stepptanznummer mit ihrer gebelteten Darbietung von ›Learn Your Lessons Well‹ kombiniert.
Beliebte Gleichnisse des Neuen Testaments - vom »verlorene Sohn« und vom »guten Samariter« - die wir als Schulkinder kennengelernt haben (nicht unbedingt als christlich erzogene, da das Christentum die Kultur durchdrungen hat) sind mit Songs durchsetzt. Das ursprüngliche »Godspell« ist im Hippie-Stil gehalten und trennt mit seiner volkstümlichen Interpretation der Evangelien die Grundsätze dieser Gleichnisse von der organisierten Religion. Das Berkshire-»Godspell«, das von der Pandemie und den damit verflochtenen sozialen Umwälzungen geprägt ist, zwingt uns, den moralischen und spirituellen Kern zu betrachten. Jesus instruiert seine Jünger: »Lasst Euch nicht vom Bösen überwinden, sondern überwindet das Böse mit Liebe.« Altmodisch? Kitschig? Der gegenwärtige USPräsident, der in den Geisteswissenschaften nichts zu suchen hat (er verachtet die Künste und Geisteswissenschaften sogar), sagte bekanntlich: »Was haben Sie zu verlieren?«
Abb. unten von oben links:
1. Das 10-köpfige Ensemble, wobei jeder Darsteller gemäß den Regeln der Actors‘ Equity und den Vorschriften des Staates Massachusetts Sicherheitsabstand hält
2. Najah Hetsberger singt das Solo ›All Good Gifts‹, eine gospelbasierte Ballade in der Pop-Folk-Rock- Partitur von Stephen Schwartz von 1971
3. ›All the Best‹ - Jesus (Nicholas Edwards), der in einer Varieté-Routine Latexhandschuhen und - anstelle eines Tanzstocks - eine Messlatte hält. Man beachte den Mund-Nasen- Schutz um den Hals bei ihm und allen Darstellern
4. Michael Wartella erzählt im mitreißenden Finale des 1. Aktes in ›Light of the World‹ davon, wie Güte in jeder Person zum Vorschein kommen kann
Abb.oben von oben links:
1. Kimberly Immanuel singt und steppt ihr Solo ›Learn Your Lessons Well‹, Höhepunkt der Produktion
2. Alex Getlin (r.) singt die Ballade ›By My Side‹, die auf der Geschichte von Maria Magdalena basiert, die einst eine Prostituierte war und Jesus bittet, bei ihr zu bleiben, nachdem sie seine Vergebung akzeptiert hat
3. Dan Rosales erzeugt etwas komödiantische Auflockerung, wenn er den Cast mit ›We Beseech Thee‹ im 2. Akt anführt
4. Jesus (Nicholas Edwards) singt das eindringlich melodische ›A Beautiful City‹, das gegen Ende der Show Hoffnung auf die Zukunft weckt. Er sitzt auf einem erhöhten Podium, weit entfernt von den anderen Darstellern, im Hintergrund als Vorsichtsmaßnahme eine Plexiglaswand
Die fesselndste von Schwartz‘ Melodien kommt im zweiten Akt nach Christus‘ letztem Abendmahl (teilweise angemessen auf Hebräisch rezitiert) mit dem opulenten, seelenvollen ›Beautiful City‹ in dem Jesus predigt: »Wenn dein Vertrauen so gut wie erschüttert ist, … kannst du verbittert und verletzt aufgeben oder langsam anfangen neu zu bauen, … eine schöne Stadt … keine Stadt der Engel, sondern endlich eine Stadt der Menschen.« BTGs »Godspell« endet mit einem mitreißenden Arrangement, welches ›Beautiful City‹ mit der Hymne ›Long Live God‹ verbindet. Des Rezensenten einzige Kritik daran ist, dass der Musicalrefrain zu früh endet.
Neben dem künstlerischen Wert von »Godspell« verdient das Management von BTG eine positive Wertung für sein Engagement während der Corona Pandemie. Bis Mitte August schränkten die Gesundheitsvorschriften von Massachusetts über das Verbot öffentlicher Versammlungen in Innenräumen hinaus immer noch öffentliche Versammlungen im Freien ein. BTG errichtete deswegen auf dem Parkplatz neben dem The Colonial Theatre, einem restaurierten Gebäude aus dem Jahr 1903, ein Zelt (15,2 x 22,8 Meter), das auf der Hauptstraße von Pittsfield betrieben wird. Dort wurde allen Ticketinhabern vor dem Besuch Fieber gemessen und die erforderlichen Kontaktdaten für den Fall einer Infektions-Verfolgung notiert. Das Zelt, das an drei Seiten den Blick auf den Sternenhimmel frei gibt, umfasst einen Zuschauerraum von 15,2 x 15,2 Metern. Die Sitzplätze sind einzeln oder durch zwei bis vier Klappstühle gruppiert vergeben. In alle Richtungen war mindestens 1,50 m Platz zwischen den Sitzarrangements, während die Bühne sich in 6 m Entfernung vom Publikum befand. Die Aufführung Anfang August durften 83 Zuschauer besuchen, die während der gesamten Spielzeit eine Maske tragen mussten.
Wegen der Sicherheitsvorkehrungen ist diese Produktion nicht kommerziell. Es geht ums Überleben. Die Ursprünge von BTG gehen auf das Jahr 1928 zurück, in dem das Berkshire Playhouse in Stockbridge gegründet wurde und Katherine Hepburn, Eva Le Gallienne und James Cagney dort auf der Bühne standen. Kate Maguire, künstlerische Leiterin und CEO von BTG, fasst die aktuelle Situation zusammen: »Wir haben 100 Jahre Theater gemacht. Wir tragen eine Verantwortung. Wir werden nicht schließen. Und wir werden auch in dieser besonderen Zeit unsere Chance nicht verpassen, um zusammenzukommen.«
Foto: Berkshire Theatre
Fotos (4): Emma K. Rothenberg-Ware
Fotos (4): Emma K. Rothenberg-Ware