... Profibereich und schon gar nicht unter Hobbyläuferinnen. Dabei kann es durchaus Sinn machen, den eigenen Zyklus einmal genauer anzusehen und die Leistungsfähigkeit in den einzelnen Phasen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. „Das ist sicher der erste Schritt, um zyklusbasiert zu trainieren“, sagt Königstein, die genau damit vor ihrer Schwangerschaft begonnen hat. Wann ist mein Eisprung? Wie geht es mir in der ersten Zyklushälfte? Und wie in der zweiten? Fragen, die sich Königstein erst stellte, nachdem das Thema verstärkt in die Öffentlichkeit gerückt war.
Nach der Schwangerschaft will Königstein wieder mit dem Laufen auf Profiniveau beginnen und dabei auch zyklusbasiert trainieren. Ein paar Monate hat sie bereits bei Philipp Seipp, dem Ehemann und Coach von Laura Philipp, trainiert. „Bei ihm ist es mittlerweile Standard, den Zyklus in das Training einer Läuferin einzubeziehen.“ Standard ist das ansonsten noch nicht, sogar weit davon entfernt. Bei den meisten Trainern, vor allem bei männlichen Coaches, sei dahingehend einfach nicht genügend Wissen vorhanden, weshalb kaum jemand das Thema Zyklus überhaupt anspreche, weiß Königstein aus eigener Erfahrung.
„Athletinnen haben das nie angesprochen“
Seit nun immerhin eineinhalb Jahren beschäftigt sich Arne-Christian Wolff mit den Aspekten des zyklusbasierten Trainings. Der Lauftrainer von two peaks endurance hat sich mit Artikeln, Videos und den wenigen Studien, die es dazu gibt, mit dem weiblichen Körper und dem Zusammenhang mit dem Laufsport vertraut gemacht. „Bis dahin hatte ich damit keine Berührungspunkte, auch Athletinnen haben das nie bei mir angesprochen“, sagt er. Aus eigenem Antrieb, um sich als Trainer weiterzuentwickeln, hat er das Thema aufgegriffen, über das er hier und da in den Medien stolperte. „Ich fand es wichtig, das endlich anzugehen.“
Drei seiner Athletinnen coacht Wolff mittlerweile mit einem starken Fokus auf den Menstruationszyklus, bei den anderen lässt er immerhin Teile des neu erworbenen Wissens einfließen. Eine neue Grundregel, die in seinem Training immer wieder Anwendung findet: hohe Belastungen in der ersten Zyklushälfte, weniger intensive Einheiten in der zweiten Phase. Die Herausforderung: Der Zyklus ist bei jeder Frau verschieden, die Beeinträchtigungen andere, das Empfinden erst recht. „Für uns als Trainer bedeutet das, dass wir ausbrechen müssen aus der Trainingsstruktur, wie wir sie von männlichen Athleten kennen“, sagt Wolff. Individualität lautet die Devise.
Das zeigt sich auch im Spitzensport beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) so. „Zyklusorientiertes Training spielt bei uns auf jeden Fall eine Rolle. Ich passe zum Beispiel die Intensitäten an die Zyklushälften an“, sagt auch Thomas Dreißigacker, Cheftrainer des OAC Europe-Teams und ehemaliger Leitender DLV-Bundestrainer Lauf/Gehen. „Dabei ist aber zu beachten, dass es dann schwieriger ist, in einer Gruppe zu trainieren.“ Etwa mit anderen Frauen oder auch mit Männern, denn der Zyklus ist bei jeder Frau verschieden.
Auch eine Frage der Verhütung
Dabei ist das zyklusbasierte Training aber gar nicht bei jeder Läuferin sinnvoll, ganz gleich ob sie Profi ist oder nicht. Denn: „Nimmt eine Frau die Pille, produziert ihr eigener Körper kaum noch Östrogen und Progesteron, diese Hormone werden dann über die Pille aufgenommen und zwar täglich die gleiche Dosis, so dass es zwischen der ersten und zweiten Phase hormonell keinen Unterschied mehr gibt“, weiß Dr. Sandy Berger. Die Gynäkologin hat durch ihren Sohn vor einigen Jahren mit dem Laufen begonnen und beim Laufcampus von Andreas Butz ein Seminar mitgemacht. Seither beschäftigt sie sich mehr mit den Faktoren, die das Laufen beeinflussen. Seit Kurzem auch mit dem Menstruationszyklus.
40 % der mehr als 700 befragten Spitzensportlerinnen einer Umfrage des SWR wünschen sich, dass der Zyklus bei der Planung von Training und Wettkämpfen stärker berücksichtigt wird.
Bislang hatte Berger den Zyklus nie aktiv mit einem Trainingsplan in Verbindung gebracht. Das Thema Laufen war in ihrer Praxis aber anderweitig häufig ein Thema: „Bei einigen jungen Frauen, die eine Anorexie entwickeln und dadurch viel laufen gehen, wird der Zyklus unregelmäßig. Bei Übertraining bleibt die monatliche Blutung sogar ganz aus“, sagt die Ärztin. Sie erklärt das mit einem erhöhten Energiebedarf beim Training, wodurch der Körper zu sparen beginnt. Das tut er beim Zyklus und der Periode, die ihn zusätzlich schwächen würde.
„VOR ALLEM IN DER ZWEITEN ZYKLUSHÄLFTE GESTALTE ICH DAS TRAINING ETWAS WENIGER INTENSIV ALS IN DER ERSTEN HÄLFTE. ES GEHT ABER NICHT DARUM, IN GEWISSEN PHASEN WENIG ZU TRAINIEREN, SONDERN ES GEHT MEHR DARUM, DIE INHALTE DES TRAININGS ANZUPASSEN.“
(THOMAS DREISSIGACKER, CHEFTRAINER OAC EUROPE)
Effekt Östrogen auf Krafttraining
Läuferinnen, die ihr Training an den Zyklus anpassen wollen, hatte Berger in ihrer Praxis bislang nicht. „Das Thema ist einfach bei vielen Sportlerinnen noch nicht angekommen“, ist sie sicher. Berger hat sich mit Kollegen unterhalten, Studien recherchiert und mit Läuferinnen gesprochen. „Es macht absolut Sinn, darauf stärker einzugehen.“ So plädiert auch sie dafür, anstrengende Krafteinheiten in die erste Phase mit einem hohen Östrogenspiegel zu legen. Denn das Hormon hat einen anabolen Effekt, wirkt also aufbauend. „Wenn in der zweiten Phase das Progesteron überwiegt, stellt sich kaum ein Effekt von Krafttraining ein. Das haben Studien gezeigt.“
Doch nicht nur in Bezug auf die Leistungsfähigkeit ist der Menstruationszyklus ein wichtiger Faktor. Auch für die Gesundheit. Gerade bei Läuferinnen wie Berger selbst, die schon über 50 Jahre alt sind und keinen Zyklus mehr haben, spielt die Knochendichte eine wichtige Rolle. Studien zufolge ist eine von vier Frauen und lediglich einer von 17 Männern über 50 Jahre betroffen. Das hat unter anderem mit dem sinkenden Östrogenspiegel bei Frauen zu tun. Und auch wenn Bewegung grundsätzlich die Knochendichte verbessern kann, sagt Berger: „Wenn wir wöchentlich hohe Umfänge laufen, haben wir ein erhöhtes Risiko, an Osteoporose zu erkranken.“ Denn beim Laufen wird teilweise ein zu hoher Druck auf die Knochen ausgeübt, und wenn dann nicht genügend Regenerationszeit eingeplant wird, kann die Knochendichte abnehmen.
Die Zyklusphasen
• Menstruationsphase (ca. 7 Tage): Die Blutung findet statt, weil der Körper die Gebärmutterschleimhaut abstößt. Östrogen und Progesteron befinden sich beide auf dem Tiefstwert.
• Follikelphase (Postmenstruelle Phase; ca. 14 Tage): Der Körper kurbelt die Produktion von Östrogen wieder an. Die Phase wird auch Follikelphase genannt, weil sich auf der Oberfläche des Eierstocks Follikel bilden. Dies sind kleine Bläschen, die noch unreife Eizellen beinhalten.
• Ovulation (Mittzyklische Phase; 1 Tag): Eine reife Eizelle verlässt den führenden Follikel und wandert den Eileiter entlang Richtung Gebärmutter – dies nennt sich auch Eisprung oder Ovulation. Das Östrogen befindet sich auf dem höchsten Level.
• Lutealphase (Prämenstruelle Phase; ca. 7 Tage): Das Hormon Progesteron (= Gelbkörper) steigt an, während der Östrogenspiegel abfällt. Wird die Eizelle in der Gebärmutter in dieser Zeit nicht befruchtet, sinkt auch der Progesteronspiegel wieder und die nächste Menstruation wird ausgelöst.
5 Tipps
von Gynäkologin Dr. Sandy Berger
1. Wer die Menstruation regelmäßig, aber mit Schmerzen hat, sollte während der Menstruation nur lockere Dauerlaufeinheiten mit niedrigen Intensitäten absolvieren.
2. In der 1. Zyklusphase (etwa 14 Tage) bieten sich Tempotrainings wie Fahrtspiele, Intervalltrainings oder Wettkämpfe gut an.
3. In der 2. Zyklusphase können Dauerläufe zur Erhaltung der Grundschnelligkeit absolviert werden und max. ein Krafttraining pro Woche.
4. Mittzyklisch, also in der Phase des Eisprungs, funktionieren Yoga und Stretching besonders gut aufgrund des hohen Östrogenspiegels.
5. In der 1. Zyklushälfte sind Bänder und Gewebe weicher, weshalb dabei das Verletzungsrisiko höher ist. Bei Trailläufen ist daher mehr Vorsicht geboten: Intensive Trailläufe mit langen Bergabpassagen sollten in dieser Phase wenn möglich vermieden werden. Keine Rücksichtnahme in diesem Maße ist erforderlich, wenn die Läuferin die Pille nimmt, keine Menstruation mehr hat aufgrund der Menopause oder die Menstruation regelmäßig und ohne Schmerzen und Leistungseinbußen hat.
Ermüdungsbrüche durch hormonelle Schwankungen
Nicht nur Sportlerinnen in der Menopause können von Problemen mit der Knochendichte betroffen sein. Welchen Einfluss Hormone auf den weiblichen Körper und seine Leistungsfähigkeit haben können, wissen viele Frauen nicht. Auch Profisportlerinnen nicht. Ruth-Sophie Spelmeyer-Preuß musste dies schmerzhaft erfahren. Die 400-Meter-Läuferin stellte vor ein paar Jahren die hormonelle Verhütung von der Pille auf die Spirale um und erlitt wohl infolgedessen zwei Ermüdungsbrüche im Bereich des Schambeins. Der Grund war wahrscheinlich die zu hohe Schwankung des Östrogenwerts.
Das hat auch Stephanie Platt hinter sich. Die ehemalige Leistungsläuferin erlitt 2019 einen Ermüdungsbruch im Kreuzbein. Ohne dass dem ein Sturz vorausgegangen war. „Ich wollte verstehen, was sich dahinter verbirgt und habe selbst recherchiert. Schnell war klar, dass wohl hormonelle Gründe damit zu tun haben“, erzählt die Berlinerin, die in ihrer aktiven Zeit zweimal deutsche Meisterin über 1.500 Meter wurde und Bronze bei der Cross-EM im Team geholt hat. Von vielen Ärzten fühlte sich die 31-Jährige mit ihrem Ermüdungsbruch nicht gut betreut. Die Recherchen führten sie immer wieder zum weiblichen Zyklus und sie entschied, selbst mehr für Aufklärung zu sorgen.
„KEINE NÜCHTERNLÄUFE IN DER ZWEITEN ZYKLUSHÄLFTE. DAS KANN DEN REGELMÄSSIGEN ZYKLUS, DIE LEISTUNGSFÄHIGKEIT UND DEN FETTSTOFF- WECHSEL NEGATIV BEEINFLUSSEN. ALS FOLGE KANN ES UNTER ANDEREM ZU EINEM ERMÜDUNGSBRUCH KOMMEN. IM ALLGEMEINEN MACHEN EXTREME NÜCHTERNLÄUFE NUR FÜR WENIGE LÄUFERINNEN WIRKLICH SINN.“
(ARNE-CHRISTIAN WOLFF, LAUFTRAINER BEI TWO PEAKS ENDURANCE)
2020 gründete Platt mit „Fierce Run Force“ die erste Frauenlaufbewegung in Deutschland und organisiert mit ihrem Team mittlerweile auch regelmäßig Gesprächsrunden zum Thema Zyklus im Laufsport. „Auch die grundsätzliche Aufklärung zum weiblichen Zyklus kommt bei vielen Frauen gut an. Da gibt es einfach noch sehr viele Wissenslücken.“ Platt betreut mit ihrem Expertinnen-Team die Läuferinnen bei Zielen wie einem Halbmarathon und bezieht in den mehrwöchigen Trainings den weiblichen Zyklus mit ein. Mittels Tagebücher erfragt sie die individuellen Herausforderungen und Bedürfnisse und passt die Laufeinheiten daran an. Das ist im ersten Moment etwas aufwendiger – kann sich aber lohnen.
Raus aus der Tabu-Zone
Und vor allem kommt das Thema durch Vereine und Initiativen wie „Fierce Run Force“ immer mehr aus der Tabu-Zone. „Den ersten Schritt zu gehen und das Thema bei anderen anzusprechen, hat mich Überwindung gekostet. Das ist einfach ein Schamgefühl“, erinnert sich Marathon-Läuferin Fabienne Königstein. Mittlerweile hat die 29-Jährige kein Problem mehr darüber zu sprechen. Bei der Athletenvertretung „Athleten Deutschland e.V.“ setzt sie sich öffentlich für die Diskussion darüber ein und will den weiblichen Zyklus mehr ins Gespräch bringen.
Auch Lauftrainer Arne-Christian Wolff musste zu Beginn eine Hemmschwelle überwinden und hat sich bei Bekannten langsam an Gespräche rund um die Menstruation herangetastet. „Wenn ich das jetzt anspreche, gelte ich gleich als Frauencoach“, sagt der Trainer und lacht. Während er die Möglichkeiten des zyklusbasierten Trainings im Hobbybereich als weniger gravierend betrachtet, ist er sicher, dass der Spitzensport sich nicht länger davor drücken kann. „Es ist wichtig, dass Trainer das mindestens ansprechen. Ein regelmäßiger Zyklus ist ja auch ein Zeichen für körperliche Gesundheit. Und die betreuten Frauen fühlen sich einfach besser verstanden – hier sehe ich einen großen Mehrwert für das Laufcoaching.“