Zu unserem Schwerpunkt in diesem Monat hat man vermutlich ein besonderes Verhältnis, wenn man selbst Kinder hat. Ich habe ein Mädchen und drei Jungen – und ich habe nach der Lektüre der Beiträge unweigerlich darüber nachgedacht, ob ich mit dem Mädchen, das lange erwachsen ist, eigentlich anders umgegangen bin als mit ihren Brüdern.
Es ist gar nicht so lange her, etwa zwei Generationen, da waren es die Mädchen, die in der Schule strukturell benachteiligt wurden. Das hatte nicht zuletzt kulturelle Gründe; in einer Gesellschaft, in der der Platz der Frauen vor allem der heimische Herd war und ihre vorrangige Aufgabe darin bestand, die Kinder zu erziehen, war eine höhere Bildung für Mädchen nicht notwendig und auch zu teuer.
Die Verhältnisse haben sich in jeder Hinsicht geändert. Heute arbeiten in Deutschland laut Eurostat rund 75,8 Prozent der Frauen zwischen 20 und 64 Jahren, viele davon in hoch qualifizierten Tätigkeiten, und in den Gymnasien sind die Mädchen mit etwa 52 Prozent in der Mehrheit und erreichen im Schnitt auch die höheren Abschlüsse. An den Sonderschulen hingegen sind die Jungen überrepräsentiert. All das deutet darauf hin, dass es heute eher die Jungen sind, die in der Schule Probleme haben. Grund genug für uns, dieses Thema einmal gründlich auszuleuchten und nach Handlungsoptionen zu fragen.
Fragt man die Forschung nach den Ursachen für diese Disparitäten, so verweisen die meisten Expertinnen und Experten auf ein Zusammenspiel von angeborenen und anerzogenen Faktoren. Klar ist, dass es biologische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt. So verfügen die Jungen gerade auch während der Pubertät über einen anderen Hormonhaushalt, und auch der Aufbau ihres Gehirns unterscheidet sich von demjenigen bei Mädchen. Dies kann – zumindest temporär – auch Einfluss auf ihre schulischen Leistungen haben. Bei Mädchen reift das Gehirn früher, dadurch haben sie zu bestimmten Zeiten Vorteile bei sprachlichen Aufgaben, während viele Jungen das räumliche Denken besser beherrschen als Mädchen. Die Wissenschaft ist sich aber auch einig darin, dass diese Unterschiede nicht ausreichend groß sind, um die unterschiedlichen Leistungen in der Schule zu erklären. Hier kommt der soziale Faktor hinzu, nämlich die Art und Weise, wie wir mit diesen biologischen Differenzen umgehen. Der soziale Faktor: Das sind wir, die Eltern und Lehrkräfte. Es macht einen Unterschied, ob und in welcher Weise wir Jungen und Mädchen unterschiedlich behandeln, welche Rollenbilder wir den Kindern und Jugendlichen vorleben und welche Angebote wir ihnen machen.
Hier setzt der vorliegende Schwerpunkt an. In den Beiträgen analysieren wir die aktuelle Situation von Jungen in der Schule und gehen dabei auch auf eine besondere Gruppe ein: Jungen mit Migrationshintergrund, die sich oftmals mit widerstreitenden Anforderungen zu Hause und in der Schule auseinandersetzen müssen. Und wir zeigen beispielhaft auf, wie eine geschlechtersensible Pädagogik den Differenzen zwischen Jungen und Mädchen besser gerecht werden kann.
Natürlich habe ich mich nach der Lektüre dieser Texte gefragt, ob meine Erziehung hinreichend geschlechtersensibel ist. Die Antwort, ohne ins Detail zu gehen: oft, aber nicht immer. Da habe ich von unseren Autorinnen und Autoren wieder einmal etwas gelernt – leider fast zu spät, zumindest wenn es um meine eigenen Kinder geht.
PS: Wir freuen uns wie immer auf Ihre Rückmeldungen und Kommentare unter redaktion-paedagogik@beltz.de oder bei Twitter unter redaktion_PÄDAGOGIK.
Bildquelle: Pädagogik, Ausgabe 12/2019
Bildquelle: Pädagogik, Ausgabe 12/2019
Dr. Jochen Schnack, RedaktionsleitDr. Redaktionsleiter