... sie plant Urlaub in Italien.
Wenn das konzentrierte Kind eine brennende Glühbirne ist, bin ich eine flackernde Leuchtstoffröhre. Leider laufen meine Arbeitstage in letzter Zeit häufig so ab. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass ich mich sogar bewusst auf jede Ablenkung einlasse, die daherkommt. Ganz so, als wäre mein unruhiger Geist eine legitime Entschuldigung dafür, dass ich kaum etwas geschafft habe. Woran liegt das, und vor allem: Wie finde ich meinen Fokus wieder?
EINE FRAGE DES WILLENS
Dem griechischen Philosophen Platon nach leide ich an Akrasia, das sich mit Willensschwäche übersetzen lässt. A wollen, B tun. Oder C, D, E… Während sein Lehrer Sokrates glaubte, niemand zeige vorsätzlich selbstzerstörerisches Verhalten, behauptete Platon das Gegenteil. Der Akrasia-Begriff aus seiner antiken Schrift Protagoras beschreibt auch heute noch das Handeln wider besseres Wissen. Noch eine Folge bei Netflix gucken, auch wenn wir schon müde sind. Ein Schokoladencroissant statt Haferflocken frühstücken, obwohl wir uns doch gesünder ernähren wollen.
Habe ich tatsächlich ganz einfach nur zu wenig Disziplin? Oder liegt es noch an etwas anderem, dass ich mich so leicht ablenken lasse? Nicht nur bei der Arbeit; auch wenn ich ein Buch lese oder mir jemand etwas erzählt, schweifen meine Gedanken ab – selbst dann, wenn ich die Geschichte oder das Gespräch spannend finde. Und das geht ja nicht nur mir so. In dem Buch Abgelenkt – Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen des britischen Journalisten Johann Hari lese ich, dass sich Studierende nur 19 Sekunden am Stück auf eine Aufgabe konzentrieren können; Büroangestellte schaffen um die drei Minuten.
Wovon hängt es ab, wie gut und lange wir uns mit einer Sache beschäftigen können? Dazu befrage ich Stefan Van der Stigchel, der als Professor für kognitive Psychologie an der Universität Utrecht zu dem Thema forscht. Seiner Meinung nach ist Konzentration das A und O, um Aufgaben erfolgreich zu Ende bringen zu können: „Aufmerksamkeit ist der Filter, den man über seine Umgebung legt, Konzentration besteht im Fixieren dieses Filters für eine gewisse Zeit: So lange bleibt eine bestimmte Aufgabe im Arbeitsgedächtnis.“
ABLENKUNGSTRIGGER
Ob unsere Konzentration generell nachgelassen hat, lässt sich laut van der Stigchel pauschal nicht sagen. Sicher ist aber, dass wir immer mehr äußere Reize zu bewältigen haben, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Ein Anruf, eine Push-Nachricht oder E-Mail – die moderne Technologie scheint auf den ersten Blick die Hauptursache dafür zu sein, dass wir uns schneller ablenken lassen. Van der Stigchel sieht das etwas differenzierter. „Es stimmt zwar, dass es Zusammenhänge zwischen der Smartphone-Nutzung und einer verminderten Konzentrationsfähigkeit gibt, aber diese sind korrelativ und nicht kausal. Mit anderen Worten: Es kann gut sein, dass ein dritter Faktor, zum Beispiel die Tatsache, dass man von Natur aus ein bisschen hibbelig ist, die Ursache sowohl für die häufige Smartphone-Nutzung als auch die kurze Konzentrationsspanne ist.“
Probleme beim Fokussieren lassen sich also durchaus, aber eben nicht nur auf eine unruhige Umgebung voller Ablenkungstrigger zurückführen. Auch ein Mangel an Reizen von außen kann sich negativ auf unsere Konzentration auswirken, ist der niederländische Neuropsychologe Mark Tigchelaar überzeugt. In einem TED-Talk über Fokus-Management erklärt er: Wenn wir mit unseren Gedanken allein sind, suchen wir uns automatisch irgendetwas zur Unterhaltung. „Wir haben das Bedürfnis, die Leere zu füllen. Fast die Hälfte der Zeit lenken wir uns selbst ab, um uns zu stimulieren.“
ENERGIEDIEBE ERKENNEN
Diese inneren Auslöser sind laut dem amerikanischen Redner und Autor Nir Eyal die Hauptverursacher von Konzentrationsproblemen. In seinem Buch Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen schreibt er, dass die Suche nach Ablenkungen unsere (nicht konstruktive) Art ist, Unbehagen entgegenzuwirken, etwa bei Langeweile, Stress, Angst oder Unsicherheit. Egal ob uns äußere oder innere Trigger ablenken: In jedem Fall wechseln wir dabei ständig zwischen den Aufgaben hin und her – und das kostet unser Gehirn Energie. Wenn wir zum Beispiel eine Nachricht auf dem Handy lesen, während wir telefonieren, dauert es mindestens eine Minute, bis wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch gelenkt haben. Laut Mark Tigchelaar brauchen wir durch unsere eigenen Ablenkungsmanöver doppelt so lange, um eine Aufgabe zu beenden. Und verlieren so bis zu zwei Stunden am Tag.
Einen dritten Grund, warum wir uns womöglich schlecht konzentrieren können, nennt Stefan van der Stigchel von der Universität Utrecht: zu wenig Energie, weil wir uns zu wenig entspannen. Der Kognitionspsychologe betont die Bedeutung von Pausen. Manche Leute schwören auf die Pomodoro-Technik (25 Minuten arbeiten, fünf Minuten Pause), aber das funktioniert nicht bei jedem. Van der Stigchel: „Es gibt keinen idealen Zeitplan. Manche Menschen können sich problemlos fünf Stunden am Stück konzentrieren, andere hingegen höchstens 15 Minuten.“ Wichtig sei, dass wir für uns herausfinden, wie wir uns zwischendurch immer mal wieder kurz entspannen und neue Energie tanken können, um konzentriert weitermachen zu können.
FOKUS WIEDERFINDEN
Bei meiner Recherche stelle ich fest: Mein größter Fokusfresser ist meine Unsicherheit, also ein interner Trigger.
Immer wieder hinterfrage ich, ob ich auch gut genug in meinem Job bin, ob mein Artikel interessant und verständlich genug ist. Und dann ist da natürlich die Ablenkung von außen, vor allem: mein Smartphone. Obwohl ich während der Arbeit an diesem Text alle Benachrichtigungen ausgeschaltet habe und es nicht ein einziges Mal aufleuchtet, greife ich alle paar Minuten danach, entsperre den Bildschirm und öffne Instagram oder die Mail-App.
EIN GUTES UMFELD SCHAFFEN
Es gibt also eine ganze Reihe von Auslösern, die dafür sorgen können, dass wir abgelenkt sind. Sie ausfindig zu machen ist ein wichtiger erster Schritt, aber was können wir darüber hinaus tun, um uns wieder besser zu konzentrieren? Laut Kognitionspsychologe van der Stigchel spielt dabei vor allem die Motivation eine entscheidende Rolle. Das leuchtet ein. Aus diesem Grund können wir uns vier Stunden lang eine Folge Bridgerton nach der anderen anschauen, müssen aber dringend die Monstera umtopfen, während wir gerade unsere Steuererklärung machen. Die Motivation ist also entweder vorhanden oder nicht – daran lässt sich nicht viel ändern. Was wir hingegen beeinflussen können, ist unsere Umgebung. Wer Reize von außen braucht, um sich besser konzentrieren zu können, kann Musik einschalten, um das Gehirn ausreichend zu beschäftigen, rät van der Stigchel. Am besten wählt man eine vertraute Playlist und keine Songs in der Muttersprache, „denn dann hörst du aktiv zu und konzentrierst dich womöglich mehr auf das Lied als auf deine Aufgabe“.
Statt mich für meine Unkonzentriertheit zu kritisieren, stecke ich meine Energie lieber in die effektive Gestaltung meiner Umgebung und Routinen
Kolleg:innen sind ein weiterer Umgebungsfaktor, der dazu beitragen kann, dass wir uns besser konzentrieren. Menschen sind von Natur aus Nachahmer, erklärt Stefan van der Stigchel: „Wenn man andere arbeiten sieht, arbeitet man selbst auch.“ Das trifft auch auf mich zu. Ich sitze beim Arbeiten nicht gerne allein zu Hause am Computer, sondern lieber in der Nähe anderer Menschen, und sei es in einem Café. Doppelt praktisch, denn ich habe gelesen, wie wichtig gesunde Snacks sind: Blaubeeren, Linsen, Avocados und Bananen gelten als Gehirnfutter. Sie liefern Energie, regen die Durchblutung im Gehirn an und haben eine konzentrationsfördernde Wirkung.
HILFREICHE GEWOHNHEITEN
Das gilt auch für ausreichend Bewegung. Besonders Intervall- und Krafttraining versorgen unser Gehirn mit mehr Sauerstoff. Auch Achtsamkeitsübungen und Meditation können die Elastizität des Gehirns fördern, die wiederum wichtig für unsere Konzentration ist. Und ganz nebenbei sinkt des Stresslevel.
Der amerikanische Autor Tony Schwartz ist davon überzeugt, dass vor allem Rituale der Schlüssel zu mehr Fokus und Produktivität sind. In seinem Buch Die Disziplin des Erfolgs bezieht er sich auf den Tennisspieler Ivan Lendl, der in den 1980er-Jahren große Erfolge erzielte. Er war nicht der begabteste Sportler, sein Geheimnis war vielmehr die Hingabe an Rituale auf und neben dem Platz. Auch andere Sportler:innen, aber auch Musiker:innen haben ihre heiligen Gewohnheiten. Von den Ruhezeiten bis zum Training ist alles genauestens geregelt. Laut Schwartz sind 95 Prozent unseres Verhaltens auf Gewohnheit zurückzuführen; gerade einmal fünf Prozent laufen bewusst ab.
EIN GUTER PLAN
Mir fehlt es also nicht unbedingt an Disziplin, ich brauche die richtige Unterstützung. Statt mich für meine Unkonzentriertheit zu kritisieren, möchte ich meine Energie fortan in die effektive Gestaltung meiner Umgebung und Routinen stecken. Damit ich es mir selbst so einfach wie möglich mache, mich ganz auf mein Tun zu konzentrieren. Was ich für mich herausgefunden habe: Wenn ich eine Runde laufen gehe, bevor ich mich an die Arbeit mache, ist mein Geist viel wacher und ich habe das Gefühl, schon etwas Wichtiges für mich getan zu haben. Weil ich mit Umgebungsgeräuschen besser arbeiten kann als ohne, lasse ich eine Playlist mit alten Lieblingsliedern im Hintergrund laufen. Und ich nehme mir vor, nachsichtig mit mir zu sein, wenn ich trotzdem mal wieder einen unproduktiven Tag habe und meinen Gedanken nachhänge.
Zugegeben, manchmal finde ich es sogar spannend, ihnen zu folgen und nicht genau zu wissen, wohin sie mich führen. Dabei stoße ich immer wieder auf Ideen und Erkenntnisse, auf die ich sonst vielleicht nicht gekommen wäre. So wie der Maler Leonardo da Vinci: Zur Frustration seines Auftraggebers, eines Mailänder Herzogs, schwor da Vinci auf die Schöpfungskraft der Tagträume. Genau diese führten schließlich zum Letzten Abendmahl, seinem berühmtesten Gemälde.