Unterschiedliche Meinungen sind legitim und führen zudem oft zu neuen Erkenntnissen. Das „Wesen der Thermik“ ist aktuell Gegenstand einer heißen Diskussion unter Meteorologen – das möchten wir unseren Lesern nicht vorenthalten. Wir sind ein Fachmagazin, das Raum bietet für ausführliche, detaillierte, fachkompetente Artikel. Deshalb bevorzugen wir keinen Autor, sondern bieten jedem die Möglichkeit, seine Sicht den Lesern zu vermitteln. An dieser Stelle – und in den beiden Meteo-Artikeln – lassen wir deshalb zwei „Kontrahenten“ zu Wort kommen und fordern unsere Leser dazu auf, uns mitzuteilen, welche Tipps aus unseren Meteorologie-Artikeln Sie nutzen und umsetzen, aber auch, was Sie möglicherweise nicht nachvollziehen können.
Henry Blum verbreitete kürzlich im magazin segelfliegen die Botschaft, dass in der Segelfluggilde zahlreiche märchenhafte Vorstellungen zur Thermik bestehen. Er postuliert weiter, dass selbst Meteorologen und Thermikmodellierer die Rolle der Feuchte in thermischen Aufwinden verkennen. Im Beitrag „Modellv(orh)ersagen“ erklärte er, weshalb u.a.das operationelle Vorhersageschema des DWD Fehlvorhersagen erzeugt. Er untermauert seine Sicht der Dinge gelegentlich mit konkreten Berechnungsbeispielen und physikalischen Formeln. Das klingt sehr wissenschaftlich und sieht auf den ersten Blick beeindruckend aus. Seine Ansätze und Rechnungen weisen bei näherer Betrachtung gravierende Fehler auf. Nachstehend werde ich einige benennen.
Der DWD nahm im Anschluss an den Beitrag „Modellv(orh)ersagen“ mit Henry Kontakt auf und stellte ihm die Publikation zu ALPTHERM aus Technical Soaring zur Verfügung. Ich führte in der Folge ein Telefongespräch mit Henry und wir tauschten uns auch schriftlich aus. Ich hatte Fragen zu seiner Thermikausbeute (im Buch), er interessierte sich für die Steigwertberechnung in ALPTHERM. Erstes Thema war sein Diagramm zur Thermikausbeute. Die Thermikausbeute ist der Anteil des sensiblen Wärmestromes an der Strahlungsbilanz. Auffällig an seinem Diagramm sind zwei Dinge:
1. Der starke Abfall der Thermikausbeute mit der Temperatur bei gegebener Luftfeuchte
2. Der Abfall der Thermikausbeute mit zunehmender Feuchte der bodennahen Luft bei gegebener Lufttemperatur Rückfragen bei Henry zu den dem Diagramm zu Grunde liegenden Formeln ergaben, dass im langwelligen Teil der Strahlungsbilanz die atmosphärische Gegenstrahlung unberücksichtigt blieb. Damit ist der korrekte Temperaturabfall nur noch knapp 40 % der gezeichneten Werte. Dass einer der beiden Terme in der langwelligen Strahlungsbilanz fehlt, wirft kein gutes Licht auf die meteorologischen und physikalischen Kenntnisse des Autors. Die zweite Eigenschaft des Diagramms „Thermikausbeute“ bedeutet, dass der latente Wärmestrom mit zunehmen- der Feuchte der Luft zunehmen soll. Die Zufuhr von Wasserdampf zur bo- dennahen Luft (vom latenten Wärme-strom getriebene Evapotranspiration) soll kontinuierlich energieintensiver werden, wenn die ungesättigte bodennahe Luft näher an der Sättigung liegt. Das entspricht einer deutlichen Abhängigkeit der Verdampfungswärme vom ungesättigten Feuchtegehalt der bodennahen Luft und die Enthalpieformel soll dies beschreiben. Der ansteigende Energiebedarf für die Evapotranspiration geht auf Kosten des sensiblen Wärmestromes und das verringert im Diagramm die Thermikausbeute. Die postulierte Abhängigkeit der Verdampfungswärme vom Feuchtegehalt der Luft ist entweder revolutionär oder unhaltbar. Ich tendiere auf die zweite Beurteilung.
Ich gab nach diesen für mich hochst erstaunlichen und befremdlichen Erkenntnissen die Empfehlung ab, dass Henry in seinem grafisch eindrucksvollen Diagramm „Thermikausbeute“ die Temperaturabhangigkeit massiv reduzieren und die Feuchteabhängig-keit der Ausbeute komplett durch die vegetationsabhängige Evapotranspiration ersetzen möge. Die saisonale Parametrisierung der Evapotranspiration -rung ein faszinierender Aspekt der Thermikmodellierung.
Im Gespräche gab Henry mir zu ver -stehen, dass die Steigwertberechnung in ALPTHERM in seinen Augen einen fundamentalen Fehler aufweist. Mit seinen kürzlich publizierten Rechnungen zu den Dieselloks begann es mir zu dämmern: Henry sieht nur das Gewicht der Thermiksäule im Vakuum.verdrängten Mediums (Archimedi-sches Prinzip) gibt es für ihn gar nicht. Mit der Newton‘schen Formulierung der Mechanik tut sich Henry auch schwer. Nachdem er bereits die Krafte nicht vollstandig in die Gleichung einbringt, gelingt ihm auch die Unterscheidung von Geschwindigkeit und Beschleunigung nicht wirklich.
In der OSTIV gibt es seit Jahrzehnten ein „Meteorological Panel“ wo sich interessierte Fachleute durchaus kontrovers über segelflugmeteorologische Themen austauschen. Bevor Henry seine Thesen nicht in diesem Kreis zur wissenschaftlichen Diskussion stellt und sie in der wissenschaftlichen Zeitschrift „technical soaring“ publiziert, empfehle ich der Redaktion des magazins segelfliegen,von Henry als Fachautor Meteorologe Abstand zu nehmen.
Olivier Liechti
dipl.phys. ETZ Zürich, Dr.sc.nat.
Unser gemeinsames, übergeordnetes Ziel sollte doch sein, im Kollektiv ein besseres Verständnis der Thermik zu entwickeln. Dann können wir sie in Zukunft noch besser vorhersagen und auch nutzen. Über unterschiedliche Meinungen und Erfahrungen sollten wir sachlich diskutieren.
Die meteorologischen Modelle, die unser normales Wetter prognostizieren, reichen bereits bis auf 14 Tage hinaus und erreichen in der Dreitagesvorhersage bereits Trefferquoten von mehr als 90 %. Wenn es um die Vorhersage von Thermik geht, sind die Postprocessing-Modelle aber noch verbesserungsfähig, besonders an sehr guten Tagen. Und zu den theoretischen Hintergründen der Thermik gab es für den segelfliegenden, aber meteorologischen Laien vor meiner Veröffentlichung kaum nutzbare Literatur.
Ich habe also eigene Überlegungen angestellt, die an einigen Stellen deutlich von der Lehrmeinung abweichen. Dabei passieren auch Fehler. Ich musste mich schon gelegentlich korrigieren lassen. Für mich ist das kein Problem, solange die Kritik sachlich, gut begründet und nachvollziehbar ist. Unterm Strich bin ich nach wie vor der Überzeugung, die Thermik entsteht zwar aus warmer Luft, aber die Feuchtigkeit trägt besonders in der Höhe zum Auftrieb und zur Stabilisierung eines Aufwindes bei und spielt so eine wichtige Rolle.
Und konkret zu Olivier Liechtis Kritikpunkten: Nicht bei allen würde ich zustimmen. Drei Beispiele greife ich mal heraus: Ein promovierter Physiker hat meine Erklärung, dass feuchte Luft leichter sei als trockene, als absoluten Blödsinn abgetan. Daher stammt also nicht meine Motivation, die Feuchte als roten Faden in meinen Artikeln zu verwenden. Die Erkenntnis über die Feuchte hatte ich schon lange vorher. Sie war quasi für mich der General-Schlüssel für fast alle Schlösser, die wir bis dahin als Segelflieger nicht öffnen konnten. (Sprich: Sie kann Erfahrungen, die wir als Piloten ständig machen, gut erklären). Zum Thema Thermik-Ausbeute: Ich habe damals eingesehen, dass die Grafik nicht korrekt war und habe das in einer Neu-Auflage korrigiert. Nur der Grund für die Korrektur lag nicht, wie von Dir vermutet, bei der atmosphärischen Gegenstrahlung. Sie war gar nicht Teil meiner Überlegungen! Ich hatte die gesamte am Erdboden auftreffende Einstrahlung (egal woher) als Energielieferant gesehen. Nur die Werte der Grafik waren aus der Enthalpie (feuchter) Luft abgeleitet, um die Nullgrad-Grenze erfassen zu können. Ein Missverständnis vielleicht, meine Aussage steht deswegen trotzdem: In kalter Luft ist die Thermik-Ausbeute tatsächlich besser!
Und die Dieselloks der letzten Märchenstunde? Die Kernaussagen beziehen sich auf die Massenträgheit und ihren möglichen Einfluss auf das Weitersteigen von Thermik bzw. Eindringen in die Inversion. Massenträgheit ist mit dem Impulserhaltungssatz verknüpft. Das archimedische Prinzip habe ich dafür bewusst ausgeschlossen. Ich habe der Einfachheit halber angenommen, dass keine Temperatur-und Feuchte-Unterschiede vorhanden sind und auch kein Auftrieb mehr und keine Reibung. Speziell der Auftrieb sollte schlagartig entfallen, damit ich nicht verschiedene Kraftvektoren gegeneinander aufrechnen muss. Du sagst: „Henry sieht nur das Gewicht der Thermiksäule im Vakuum“. Das stimmt sogar! Genau das habe ich versucht: den Einfluss der Massenträgheit zu berechnen, wenn keine weiteren Kräfte mehr einwirken, die die Rechnung verfälschen könnten!
Wie schon erwähnt: Olivier Liechti und andere haben sich große Verdienste für die Segelfliegerei und die Meteorologie erworben. Wir sollten also unsere abweichenden Auffassungen weiterhin sachlich diskutieren.
Henry Blum
Dipl.-Ing. (Elektrotechnik)