Sie lässt Minuten zu Stunden werden und verwandelt ereignislose Sonntagnachmittage in weite Meere der Ewigkeit Langeweile ist ein Gefühl, das jeder kennt und nur wenige mögen – ein zielloser Leerlauf des Geistes, der ungeduldig und träge zugleich macht. Auffällig ist:
Niemals später erleben wir Langeweile so häufig und so intensiv wie in der Kindheit. Wohl alle Eltern kennen den Satz, „Mir ist sooo laaangweilig!“, als typischen Rücksitz-Soundtrack langer Autofahrten. Aber auch während normaler Spielsituationen zu Hause kann dem Nachwuchs die Zeit lang werden – wovon Papa und Mama meist umgehend im Beschwerdeton informiert werden. Wohlmei- nende Vorschläge wie „Mal doch mal was“, fruchten dann meist wenig. Die Langweile scheint ein hartnäckiger Gast. Ist sie erst einmal da, lässt sie sich nur schwerlich vertreiben.
Was also tun mit dem unzufriedenen Kind? Ihm immer neue Vorschläge unterbreiten? Es mit niedrigschwelligen Angeboten wie Videos oder Handyspielen aus seiner trüben Stimmung locken?
Dr. Ingo Spitczok von Brisinski vom Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland rät Eltern dazu, gelassen zu reagieren: „Langweile ist etwas ganz Normales. Kindern widerfährt sie deshalb häufiger, weil sie Zeiträume in Relation zu ihrer eigenen Lebenszeit erleben. Ein Jahr ist für einen Fünfjährigen immerhin ein Fünftel seiner Lebenszeit – und auch eine Stunde fühlt sich für ihn entsprechend länger an.“
Eltern sind keine Entertainer
Auf keinen Fall sollten Eltern reflexhaft beginnen, ihren Nachwuchs zu bespaßen, um Phasen des Leerlaufs vorzubeugen. Denn gerade diese sind im Leben vieler Kinder ohnehin schon selten. Bereits im Grundschulalter sind mehrere Sport-oder Musikkurse pro Woche keine Seltenheit. Auch in der gemeinsamen Familienfreizeit – von Spaßbad bis Freizeitpark – ist meist viel Action angesagt.
Dazu kommt die ständige Verfügbarkeit digitaler Medien. Wurde früher über Fernsehzeiten verhandelt, dienen nun auch PC, Konsole und Smartphone zur alltäglichen Unterhaltung. Und deren Nutzung zu begrenzen, ist für Eltern schwieriger. Die Bitkom Studie 2019 ergab, dass mehr als die Hälfte der Sechs- bis Zehnjährigen ein Smartphone nutzt, bei den Zehn- bis Elfjährigen sind es bereits 80 Prozent. Beide Altersgruppen verwenden die Geräte weniger zum Telefonieren als zum Konsumieren von Videos & Co. So ist Ablenkung für viele Kinder stets nur einen Klick entfernt – und Leerlauf und Langeweile haben keine Chance.
Ohne Frage ist die Nutzung dieser Medien heute ein Stück Normalität, in die Kinder nach und nach hineinwachsen müssen. Fakt ist aber auch, dass sie oft starke Reize bieten, denen der Nachwuchs nur schwer widerstehen kann. Danach wirken analoge Beschäftigungen oft erst einmal öde.
„Es ist, als würde man an einem sonnigen Tag plötzlich in einen dämmrigen Raum treten. Man ist wie geblendet – und für schwächere Reize zunächst wenig empfindlich“, erklärt Dr. Spitczok von Brisinski. Erst wenn das Kind sich nach einer Weile wieder an ein niedrigeres Reizlevel gewöhnt habe, seien andere Beschäftigungen wieder attraktiv. In der Zwischenzeit ist alles „laaangweilig!“.
Eigene Interessen entdecken
Doch gerade jene Momente, in denen Kindern niemand sagt, wie es nun weitergehen soll, in denen keine Reize sie ablenken, bieten ihnen die Chance, zu einer eigenen Initiative zu finden – ein wichtiger Schritt beim Ausbilden einer individuellen Persönlichkeit. Oder, wie es der berühmte Schweizer Entwicklungsexperte Remo H.
Largo ausdrückt hat: „Jeder Mensch braucht eine gewisse Leere, um zu spüren, was er will. Wie soll man sonst im Lauf der Zeit erkennen, wer man ist?“
Glücklich im „Flow“
Er ist das genaue Gegenteil von Langeweile: Der sogenannte „Flow“ (englisch für „Fließen“, „Strömen“) ist ein Bewusstseinszustand, bei dem Kinder wie Erwachsene ein Gefühl von großer Zufriedenheit und Erfüllung erleben.
Er stellt sich immer dann ein, wenn wir in einer Tätigkeit völlig aufgehen und so alles andere um uns her vergessen. Gerade Kinder sind sehr gut in der Lage, diese tief empfundene Schaffensfreude zu erleben und zu genießen, etwa wenn sie Basteln, Malen oder sich selbst erfundenen Fantasiespielen hingeben. Grundbedingung, um einen Flow zu erleben: Die gewählte Tätigkeit darf nicht überfordernd sein (und dadurch ängstigen), sie darf aber auch nicht unterfordern (und dadurch langweilen).
Langweile als Nadelöhr, durch das wir müssen, um eigene Interessen zu entdecken – diese Sichtweise teilte auch der große Erziehungsexperte Jesper Juul. Er rät Eltern, ihrem Kind zu signalisieren, welches positive Potenzial in der Langweile steckt: „Sie umarmen Ihr Kind und sagen zu ihm: Herzlichen Glückwunsch mein Freund! Es interessiert mich, zu sehen, was du jetzt tust.“
Sanfte Unterstützung leisten
Gänzlich allein lassen sollten wir den Nachwuchs bei dieser Selbstfindung aber nicht. „Wer sich langweilt, ist auf sich selbst zurückgeworfen. Dabei können auch negative Gedanken vom Kind Besitz ergreifen“, so Dr. Spitczok von Brisinski. Verständnis und sanfte Impulse seitens der Eltern sind also durchaus sinnvoll. Denn: Die eigene Zeit zu gestalten, ist etwas, das Kinder lernen müssen.
Die Stille genießen!
Ob in der Schule, im Schwimmbad oder beim Musikhören: Kinder sind in vielen Situationen einem hohen Geräuschpegel ausgesetzt.
Tipps, wie der Nachwuchs buchstäblich „zur Ruhe kommt“
• Hörspiele, Radio, Fernseher: Viele Kinder haben sich daran gewöhnt, dass im Hintergrund ständig etwas „dudelt“ – auf die Dauer sorgt dies für Ablenkung und Reizüberflutung. Sorgen Sie deshalb dafür, dass häufiger mal alle Geräuschquellen abgeschaltet werden.
• Viele Kopfhörer sind weit hochdrehbar und können Kinder so einer starken Lautstärke aussetzen, ohne dass Eltern dies mitbekommen.
Abhilfe schaffen spezielle Kinderkopfhörer. Sie sitzen nicht nur besser, sondern haben auch eine Lautstärkebegrenzung.
• Rituale können Kindern dabei helfen, die Stille wieder zu genießen. Vielen tut es gut, nach der Schule eine Viertelstunde auf dem Sofa oder einem weichen Teppich zu relaxen, bevor es an die Hausaufgaben geht. Auch ein Abendritual, beim dem in ruhiger Atmosphäre erzählt oder vorgelesen wird, sorgen für positive Entspannung.
• Wer Stille zulässt, wird empfänglicher für seine Umgebung – eine wichtige Erfahrung für Kinder, die sich zum Beispiel in einen Waldspaziergang einbauen lässt. Alle bleiben für ein paar Minuten stehen und sind ganz leise, danach wird reihum erzählt, welche Geräusche erlauscht wurden. Klappt auch, wenn man es sich mit einer Decke auf einer Wiese gemütlich macht.
Wie lange sie frei spielen können, hängt dabei auch von ihrem Entwicklungsstand ab. So sind etwa Einbis Dreijährige, laut einer Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), in der Regel nur bis zu 30 Minuten in der Lage, sich allein zu beschäftigen. Erst mit wachsendem Alter können Kinder länger im eigenständigen Tun versinken.
Die BZgA empfiehlt, sie dabei mit einer reizvollen, aber nicht überladenen Spielumgebung zu unterstützen. Gut geeignet seien etwa Basis- Bausteine sowie Spiel- oder Bastelmaterialen, die verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Ebenfalls wichtig ist, den Nachwuchs auf das Geschaffte hinzuweisen. „Viele Kinder neigen dazu, Dinge, die sie selbst hingekriegt haben, nicht beachtlich zu finden. Ein Lob bestärkt sie in einem Gefühl der Selbstwirksamkeit“, so Dr. Spitczok von Brisinski. Nehmen wir unsere Kinder also im Geiste Jesper Juuls in den Arm und sagen: „Mein Freund, ich bin beeindruckt, was du aus diesem Moment der Langeweile gemacht hast!“