Uraufführung von »Der Mann mit dem Lachen« an der Staatsoperette Dresden
Abb. oben: Gwynplaine (Jannik Harneit, Mitte) offenbart dem Oberhaus (Ensemble) sein wahres Gesicht
Foto: Stephan Floss
Victor Hugo hat mit »Der Glöckner von Notre Dame« und »Les Misérables« bereits zwei monumentale Vorlagen geliefert, die nicht nur zu Filmen, sondern auch Musicals inspiriert haben. 150 Jahre nach dem Erscheinen seines epochalen Werkes »Der Mann mit dem Lachen« (»L‘homme qui rit«) feierte das gleichnamige Musical an der Staatsoperette Dresden Uraufführung. Fast drei Jahre haben Komponist Frank Nimsgern, Autor Tilmann von Blomberg und Liedtexter Alexander Kuchinka an dem Auftragswerk – angeregt durch Intendant Wolfgang Schaller – gearbeitet, ehe sie unter der Regie von Andreas Gergen ihr Kunststück in die Freiheit entlassen haben. Die umfangreiche Arbeit hat sich gelohnt. Mit der Uraufführung ist es ihnen erfolgreich gelungen, den Zuschauer in eine historisch prahlerische Welt voller Licht und Schatten zu entführen, ohne dass man das Gefühl bekommt, von dieser erschlagen zu werden.
Ein Kunststück ist es deswegen, weil es Tilmann von Blomberg geschafft hat, ein Werk von über 800 Seiten, welches sich auf einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten erstreckt, so zu kürzen, dass eine bühnentaugliche Länge mit einer speziellen Würze an Dramaturgie entstanden ist, ohne dabei die Historie oder die Kernaussagen Hugos essentiell zu verändern.
Die Geschichte beginnt mit einem gesprochenen Prolog, der verwirrend erscheint, sich mit der Zeit aber immer mehr in das Gesamtgefüge integriert und die Erzählung komplettiert. Im Mittelpunkt steht Gwynplaine (Jannik Harneit), dessen Gesicht als Junge chirurgisch zu einem Dauergrinsen entstellt wurde. Zurückgelassen im bitterkalten Wintersturm, verdammt, zu sterben, erbarmt sich der Gaukler Ursus (Elmar Andree) seiner. Ebenso nimmt er sich des blinden Babys an, welches der Junge gefunden hat, und nennt es Dea (Olivia Delauré). Beiden bringt er das Schaustellerhandwerk bei und erfolgreich reisen sie von Ort zu Ort. So landen sie 1705 in England auf einem Londoner Jahrmarkt, auf dem sich das Volk verlustiert. Obwohl zufrieden mit dem beschaulichen Leben, träumt Gwynplaine von ›Oben‹, dem Licht und der Wärme, die es verspricht, nicht willens, nur auf seinen Platz verwiesen zu sein. Zumal eine hübsche, wohlhabende Dame bei der letzten Vorführung seine Aufmerksamkeit erregt hat. Einer sich erfüllenden Prophezeiung gleich, wird er am nächsten Tag von Beamten in Begleitung von einem Gerichtsdiener grundlos verhaftet. Jedoch nicht, um im Tower von London zu landen, sondern vielmehr, um in reich verzierten Gemächern eines Schlosses von Barkilphedro (Christian Grygas) über ›Die Wahrheit‹ seiner eigentlichen Herkunft aufgeklärt zu werden. So stellt sich heraus, dass Gwynplaine der verlorene Sohn des ermordeten Lords Clancharlie und Erbe eines unfassbaren Vermögens ist. Gernardus (Markus Liske), einer der Räuber, erkannte den Jungen von damals im »Lachenden Mann« wieder und beichtete für die Rettung seiner Seele die vergangene Schandtat. Gwynplaine glaubt sich im siebten Himmel. Nur die wohlmeinende Zurückweisung durch den Beamten der Admiralität, Ursus und Dea auch in das Schloss zu holen, lässt ihn kurz zögern.
Selbige sind fassungslos von der Gefangennahme ihres Sohnes und Geliebten. Wenig später werden sie der Hexerei beschuldigt und von Barkilphedro aufgefordert, binnen einer Woche das Land zu verlassen. Auf Gwynplaine bräuchten sie nicht warten, dieser sei tot. Ursus glaubt, die Träumereien seines Ziehsohnes seien dafür verantwortlich und ›Nur kein Ehrgeiz‹ rette einen vor der Willkür der herrschenden Klasse.
Der neue Lord ahnt von alledem nichts, ist vielmehr von Stolz und Glück beseelt, nachdem er bei den Streifzügen durch das Schloss auf einen alten Familienstammbaum stößt. Wenig später begegnet er der Dame vom Jahrmarkt wieder, die sich als Herzogin Josiane (Anke Fiedler), Halbschwester von Königin Anne (Angelika Mann) und Treuhänderin seines Vermögens, entpuppt. Diese offenbart ihm, dass sein Aussehen ›Das ist, was mich erregt‹, und schlussendlich verbringen sie eine leidenschaftliche Nacht miteinander. Jener Umstand erfreut Englands Monarchin aufs Äußerste und sie verkündet kurzerhand die Verlobung der beiden. Ebenso soll Barkilphedro für seine unermüdlichen Mühen ein Adelstitel zuteilwerden, sobald der neue Lord als Peer von England in das Oberhaus eingeführt wurde.
Auf der Verlobungsfeier wird Gwynplaine ein Brief zugesteckt mit der Warnung, dass nichts so ist, wie es scheint, in dem um ein geheimes Treffen gebeten wird. Im ersten Moment gerät das Schriftstück in Vergessenheit, bis sein Diener Aelfred (Jürgen Mai) nach dem Servieren des Abendessens scheinbar versehentlich eine alte Zeitung liegen lässt. In dieser steht, dass sein Vater bis zuletzt ein überzeugter Republikaner gewesen ist und nicht, wie sein neuer Freund behauptet hat, ein ergebener Royalist. Daraufhin macht sich der ehemalige Gaukler des Nachts auf den Weg zu Londons Richtplatz, wo er auf Dr. Hardquannone (Bryan Rothfuss) trifft, der Chirurg, der ihn als Kind so furchtbar entstellt hat. Gegen eine Belohnung offenbart dieser ihm ›Die Mär, die man erzählt‹ und Gwynplaine steht alsbald vor einem Scherbenhaufen. Erst Dea vermag es, ihm sein inneres Gleichgewicht, Mut und Entschlossenheit zurückzugeben. Denn ›Hässlich ist, wer Böses tut‹.
Am Ende ist es Ursus, der für seine gute Handlung zu Beginn des Stücks die wertvollste Belohnung erhält: eine vereinte Familie. Es ist nicht alles Gold, was glänzt, und die wahren Reichtümer liegen oftmals im Verborgenen.
Ein Kunststück ist das Werk auch deshalb, weil die Kompositionen von Frank Nimsgern, vielfältig und harmonisch ineinander übergreifend, das Musical zu einem überzeugenden Erlebnis werden lassen. Neben den barocken Elementen, die die Zeit von Königin Anne widerspiegeln, stechen ebenso rockigean »Queen« erinnernde Melodien (›Ein Freak, ein jämmerlicher Wicht‹) hervor. Bei den Hauptakteuren finden sich motivartige Wiederholungen, die für einen melodischen roten Faden sorgen und den Figuren zusätzliche Tiefe und musikalische Einzigartigkeit verleihen. Zwischen Anlehnungen an Oper, romantischer und klassischer Orchestrierung, gepaart mit Klängen aus Popmusik und modernem Musical, swingt man mit, wenn die Beamten der Admiralität bei ›Englands Stolz‹ ihre Formulare abstempeln. Neben den klassischen Instrumenten kommen auch Keyboard, E-Gitarre, E-Bass und das Drum-Set zum Einsatz. Trotz des bunten Mixes schafft es Nimsgern, in Zusammenarbeit mit Matthias Suschke, der für Orchestrierung und Arrangement verantwortlich zeichnet, und Peter Christian Feigel, der die musikalische Leitung innehat, ein harmonisches Gesamtkunstwerk zu kreieren, in dem den einzelnen Stimmen der Darsteller wie auch dem Chor Rechnung getragen wird. Dieser rundet die Atmosphäre noch einmal ab, indem er als griechischer Chorus kommentiert und gleichzeitig mit in die Handlung eingewoben ist.
Die Liedtexte von Alexander Kuchinka bilden das Bindeglied zwischen Buch und Musik und passen sich beidem in hervorragender Weise an. Der Sprachduktus von Tilmann von Blomberg wird weitergeführt. Dadurch werden Eigenarten der damaligen Zeit wiedergegeben und gleichzeitig alles so modernisiert, dass man sich nicht nur inhaltlich sowie emotional mit den Protagonisten identifizieren kann, sondern sich selbst als Teil der Geschichte wiederfindet.
Abb. unten von oben links:
1. Barkilphedro (Christian Grygas, l.) warnt Gwynplaine (Jannik Harneit, r.) vor unüberlegten Handlungen
2. Königin Anne Stuart (Angelika Mann, vorne) erhält Zuspruch und eine Massage von ihrer besten Freundin Sarah Churchill (Anne Schaab, hinten)
3. Gwynplaine (Jannik Harneit) fragt Dea (Olivia Delauré), was für eine Art von Liebe sie für ihn empfindet
4. ›Ich bin das Volk‹ – Gwynplaine (Jannik Harneit, Mitte) bietet dem englischen Oberhaus (Ensemble) Paroli
Abb. von oben links:
1. Ursus (Elmar Andree) freut sich über den spanischen Quatrupel und prüft ihn auf seine Echtheit
2. Die Geschichte nimmt mit einer unheilvollen Verkündung ihren Lauf (Ensemble)
3. Gwynplaine (Jannik Harneit, l.) erkundet mit seinem Diener Aelfred (Jürgen Mai, r.) das Schloss und erblickt sich mit makellosem Gesicht auf einer alten Darstellung des Familienstammbaumes
4. Dea (Olivia Delauré) lässt sich trotz ihrer Blindheit nicht die Freude am Leben nehmen
Andreas Gergen setzt bei der Inszenierung auf opulente Bilder, die sowohl der Handlung als auch der Musik in nichts nachstehen. Jeder und alles bekommt seinen Raum und an passenden Stellen wird verdichtet. Das Bühnenbild von Sam Madwar unterstützt dieses Vorgehen dahingehend, dass das Metallgerüst gleichzeitig Handlungsort, Rahmen wie auch Tor zu tieferen Geschehnissen ist. Durch die Drehbühne wechseln die Fassaden von jetzt auf gleich, Licht und Projektionen lassen das Publikum lebendig am Geschehen teilnehmen. Die Kostüme von Uta Loherund Conny Lüders sind raffiniert einfach. Keine Kostümschlacht, wie man es für die barocke Zeit erwarten würde, sondern zeitlos geschnitten und ebenso wandelbar wie das Bühnenbild. Mit wenigen Zusätzen wird aus dem Volk die Dienerschaft und aus Gwynplaine dem Gaukler Gwynplaine der Lord. Die Choreographie von Simon Eichenberger bindet das Ballett der Staatsoperette Dresden wundervoll mit ein. Die Bewegungen aller haben dabei eine Natürlichkeit, die es dem Zuschauer möglich macht, direkt in das Geschehen einzutauchen und sich als Teil des großen Ganzen zu fühlen in spannender Erwartung, wie es weitergeht und welche Geschichten hinter den Geschichten noch verborgen liegen.
Die Darstellerriege setzt sich fast ausschließlich aus dem eigenen Ensemble des Dresdner Operettenhauses zusammen. Jannik Harneit brilliert als »Der Mann mit dem Lachen«, Gwynplaine, in dem er jede Situation und Emotion auf den Punkt genau darstellt und sie nicht nur spielt, sondern lebt. Gesanglich erreicht er jede Tonlage und im Duett ›Mit dir‹ mit Olivia Delauré (Dea) zaubern beide eine poetische, romantische Stimmung, die berührt und dabei in keiner Weise dem Kitsch verfällt. Elmar Andree (Ursus) hat keinerlei Schwierigkeiten damit, die tiefen Töne volltönig darzubieten. Es wirkt nicht gepresst, sondern zieht den Zuhörer in seinen Bann, verbindet man den Klang doch zum Teil mit den anderen Werken, die auf Hugos Schaffen beruhen. Christian Grygas ist die Rolle des Bösewichts wie auf den Leib geschneidert. Dabei schafft er die Wandlung vom ehrenvollen Diener der Königin und ratgebenden Freund Gwynplaines zum rachedurstigen Mann, dessen traumatisches Kindheitserlebnis ihn auf diese dunklen Pfade führte, mühelos.
Als i-Tüpfelchen konnten Angelika Mann als unbeirrte Monarchin Englands – die zur rechten Zeit einen sehr trockenen, doch nicht weniger passenden Humor anbietet – und Anke Fiedler als Herzogin Josiane – die für ihre Ziele über Leichen gehen würde–gewonnen werden.
Dass in der Zwischenzeit in London und Seoul ebenfalls Musical-Adaptionen von »Der Mann mit dem Lachen« spielten, zeigt, dass das Auftragswerk der Staatsoperette Dresden aktueller ist denn je. Egal, in welcher Epoche Hugos Werk spielt, so sind die Kernaussagen manchmal schon erschreckend klar auf die heutige Zeit übertragbar und diese Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart einzufangen, ist allen Beteiligten vollauf gelungen.
Fotos (4): Stephan Floss
Fotos (4): Stephan Floss