... gelassen, Ruhetag.
AUTO BILD steigt Fiat aufs Dach, könnte man meinen, aber das ist nicht ganz richtig. In Wahrheit liefert Fiat nur die Geschichte, die es braucht, um die alten Zeiten in den Bilderrahmen der Erinnerung zu bannen.
Wir sind in Lingotto, das ist ein Stadtteil von Turin, Heimat des italienischen Autobauers im Norden Italiens. Lingotto ist auch der Name einer ehemaligen Autofabrik, gebaut ab 1916. Man muss kein Architekturstudium abgeschlossen haben, um zu sehen:
DAS! IST! MONUMENTAL!
Der Legende nach war Giovanni Agnelli (1866 bis 1945) zu Besuch bei Ford in Detroit und derart begeistert, dass er eine moderne Produktionsanlage für seine „Fabbrica Italiana Automobili Torino“, kurz Fiat, haben wollte. Von 1915 bis 1918 erwarb der Fiat-Gründer 378 000 Quadratmeter Land vor den Toren Turins, 55 Kaufverträge mit Eigentümern waren dafür nötig. 1916 startete der Bau, zehn Jahre später war alles fertig.
Jetzt sind wir hier. Im E-Auto. Vorhin, als wir „ins Haus“ reinund die Rampen hochgefahren sind, leise, wendig, schnell wie mit ’nem wild gewordenen Ferrari, als wir also Rampe um Rampe nahmen und über uns auf puren Beton blickten, da wussten wir, dass wir ungefähr 20 Stunden schneller oben sind als früher die Autos.
Denn die mussten ja erst noch gebaut werden, Etage um Etage!
Fiat vertraute dem Ingenieur Giacomo Matté-Trucco (1869 bis 1934) das Projekt Lingotto an, er schuf zwei Längskörper mit einer Länge von jeweils 507 Metern und einer Breite von 24 Metern. Auf fünf Etagen haben sie ab 1923 die Autos „von unten nach oben“ gebaut, und wenn sie fertig waren, drehten die Fiat-Leute auf dem ein Kilometer langen Rundkurs auf dem Dach eine Runde, um die Qualität zu prüfen. Wenn irgendwas klapperte oder ruckelte, ging es zurück nach unten.
In nicht ganz 60 Jahren entstanden in Lingotto 80 verschiedene Automodelle, am berühmtesten natürlich der Fiat 500. Als letztes Auto verließ 1982 ein Lancia Delta die Produktionshalle und drehte eine Runde über den Dächern Turins. Schon früh hatte Fiat erkannt, dass die vertikal angeordnete Produktion umständlich war, das Werk zu klein. Vier Kilometer oder zehn Minuten weiter entstand die Fabrik in Mirafiori, in der ab 1939 die ersten Autos vom Band rollten.
Jetzt ist 2022, und statt eines Zweizylinders im Heck hat unser Fiat 500 einen E-Motor vorn, statt 21 Liter Benzin im Tank haben wir 37,3 kWh nutzbare Akkukapazität im Fahrzeugboden. Dass wir hier überhaupt fahren dürfen, hat mit genau diesem Auto zu tun: Fiat 500 Elektro, also Stromer statt Verbrenner. Denn nur (noch) die Zarten kommen in den Garten, Benzin wollen sie nicht mehr riechen.
Lingotto wird grün! Das Projekt heißt „La Pista 500“, mit 40 000 Pflanzen soll die ehemalige Einfahrstrecke der größte Dachgarten Europas werden, jedem Menschen offenstehen. 300 verschiedene Pflanzenarten, vorwiegend schnell wachsende Stauden, wollen sie kultivieren. Und auf die Strecke dürfen nur noch E-Autos.
Also wir.
Wenn du immer nur im Kreis fährst, 443 Meter geradeaus, kurz das Lenkrad nach links dirigierst, dann wieder auf neutral, wieder 443 Meter geradeaus, wieder Lenkrad leicht links, dann fühlst du dich wie ein Hamster im Laufrad. Wenn du aber ab und zu bremst, ohne auf das Pedal zu latschen, also wenn du mit dem Stromer rekuperierst und Energie zurück in den Akku holst, wenn du dann deinen angesparten Strom in feurige Sprints investieren kannst, dann bist du auf einmal Speedy Gonzales oder Jerry auf der Flucht vor Tom.
ENDLICH! Endlich fährt der 500er so agil, so forsch und frech, wie das zu Benziner-Zeiten nie möglich war. Er liegt in der Steilkurve so straff auf dem Asphalt, als hätten sie ihm aus Versehen Ferrari-Federn eingebaut, er zischt ab mit 220 Nm Drehmoment, als wären hinter uns die Carabinieri her.
Unser Roter ist ein Fiat 500 Red, Sondermodell mit rotem Fahrersitz, das Cabrio hat elektrisches Faltdach, schafft mit großem Akku 320 Kilometer elektrisch, lädt in 35 Minuten und mit 85 kWh von 10 auf 80 Prozent, steht inklusive Umweltprämie ab 26 820 Euro in der Liste. Und wird endlich wieder in Turin gebaut. Nee, nicht in Lingotto, wissen Sie ja. Unter dem Rundkurs haben sie zwei Hotels, Einkaufszentrum, Kino und Teile der Uni untergebracht. Der Stromer ist aus Mirafiori, also einmal ums Eck, wo er jetzt wieder parkt.
Und dann sitzt du nach deiner Schicht im Café neben dem Werk, schließt die Augen. Wenn du mitten in der Stadt tief ein-und langsam wieder ausatmest, ist es, als zöge die neue Welt an dir vorbei. Dachgarten statt Rennstrecke, Ruhe statt Lärm, Grün statt Grau.
Es wird nicht alles schlecht.
! Welch ein Meisterwerk der Architektur! Die Auffahrrampen der Ex-Fabrik entstanden 1923 bis 1926