... ein klitzekleines Bisschen können wir nachempfinden, wie sich der Abenteurer Auguste Piccard und sein Begleiter am 28. Mai 1931 hier am Gletscher gefühlt haben müssen. Nachdem sie mit ihrem Gasballon auf 15 781 Meter aufgestiegen waren, konnten sie aufgrund einer Panne nicht wie geplant landen, trieben stundenlang durch die Lüfte und setzten am Gurgler Ferner im Ötztal auf. In einer ziemlich fremden Welt. Glücklich und angespannt zugleich. Zuversichtlich, aber orientierungslos. Unsere Situation ist weitaus komfortabler, und trotzdem müssen wir uns am Riemen reißen. Unter uns ist nur Ötztaler Luft – und zwar 100 Meter am Stück. Wo die Leere auf hört, fängt der Gletscher an, von dem wir aber nur Fetzen sehen, weil Wolken und Nebel ein bizarres Einschüchterungsspiel aufführen. Wer schwache Nerven hat, sollte auf einer Hängebrücke lieber nicht nach unten blicken. Es ist aber auch nicht viel besser, die Augen geradeaus zu richten. Die 142 Meter lange Brücke verschwindet im Nebelnichts und mit ihr die Bergkameraden. Die Gespräche sind verstummt, und wenn doch jemand einen Halbsatz herausbringt, verschlucken die dicken Wolken einzelne Silben. Was bleibt, sind wabernde Wortfetzen und der Drang, die Piccard-Brücke schnell zu überqueren.
Die Brücke existiert erst seit 2017. Davor haben Wanderer direkt den Gurgler Gletscher gequert, um die Langtalereckhütte oder in umgekehrter Richtung das Ramolhaus zu erreichen. Die Schutzhütte des DAV Hamburg liegt bereits über der 3000-Meter-Marke und ist Ausgangspunkt für einsame, imposante Gipfel wie jene der Spiegelkogel-Gruppe. Aber am Ende war es fast leichter, die Firmisanschneid oder den Schalfkogel (3537 m) zu besteigen, als den 1000 Meter tiefer liegenden Gletscher zu überschreiten. Durch den stetigen Rückzug des Eises entstanden immer wieder neue Hürden, die gute Klettertechnik und auch Ortskenntnis voraussetzten. Auch die Holzbrücke über den Gletscherbach bereitete jedes Jahr Bauchschmerzen. Sie wurde verlängert und verlegt, bis Politiker und Touristiker ein Einsehen hatten und für mehr als 400 000 Euro die Piccard-Brücke bauten.
Es lag nahe, sie nach dem Abenteurer zu benennen, schließlich ist er in etwa dort mit seinem Ballon aufgeschlagen. Der exakte Punkt existiert freilich nicht mehr, weil das Eis seit der Landung vor fast 90 Jahren fröhlich vor sich hingeschmolzen ist. Es kann sogar sein, dass Piccard damals an einem Punkt über unseren Köpfen zum Liegen kam. Sicher ist, dass er so schnell wie möglich runter wollte, obwohl ihm die Landschaft durchaus gefiel. »Hochgebirge, phantastisch schön«, schrieb er damals in sein Bordbuch. Als er seine Retter erblickte, die nach oben gestiegen waren, weil sie auf dem Gletscher die gelbe Ballonhülle gesehen hatten, fragte er: »Wo sind wir? In der Schweiz, in Italien oder in Österreich?« Es dauerte fünf Stunden – und damit doppelt so lange als üblich – um mit Piccard und seinem Begleiter, Ingenieur Paul Kipfer, nach Obergurgl zu marschieren. Die beiden waren schwer angeschlagen, hatten beim Ballonstart vergessen, Wasser einzupacken. Von der traumhaften Natur wollten sie verständlicherweise nichts wissen. Dabei ist der östliche Abstieg vom Gurgler Ferner bis heute das vermutlich schönste Wanderfinale im Ötztal. Wo nun die Schönwieshütte steht, hat der Bergsteiger einen einzigartigen Blick auf das Gletscher-Ensemble im Süden, während über die grünen Bergrücken im Westen die Gebirgsbäche laut schnaubend ins Tal rauschen. Zu Füßen der Wanderer mäandert die Rotmoosache, ehe auch sie sich wehmütig gen Obergurgl ergießt, um noch respektvoll einen Bogen um den Zirbenwald zu machen. Einzelne Bäume sind mehr als 300 Jahre alt und versöhnen auch uns mit den Bergen hier im Ötztal, die uns witterungsbedingt keine Besteigung erlaubt haben. Auch bei Piccard lief es damals nicht wie geplant. Aber am Schluss gab es doch ein Happyend.
1 Das Ramolhaus hat einen stolzen Platz hoch über dem Gurgler Ferner.
2 Ein Portrait von Auguste Piccard nach der Rett ungsaktion in Obergurgl
Christian Schreiber ware mit seiner Platzangst kein guter Mitfahrer im Ballon gewesen. Er bleibt lieber auf dem Boden der Tatsachen und erkundet die Historie der Notlandung.
Fotos: Otztal Tourismus
Fotos: Otztal Tourismus, Johannes Brunner/Otztal Tourismus, Bernd Ritschel/Otztal Tourismus