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Auch die Zeit zwischen dem sechsten und elften Lebensjahr ist wichtig für die moralische Entwicklung. Hier bildet sich – allmählich, widersprüchlich und nicht unbedingt kontinuierlich – Moral aus: Das Kind denkt über Werte nach und erwirbt die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, anderen zu helfen und die Interessen von Mitmenschen zu achten. Es verinnerlicht soziale Normen und ist bemüht, mit gesellschaftlichen Werten übereinzustimmen.
Stillstände und Rückfälle sind jederzeit möglich
Doch ist dies ein komplizierter und langwieriger Prozess, der sich vom Kindergartenalter bis in die Vorpubertät hineinzieht – gekennzeichnet von Widersprüchen und Brüchen, die Eltern Sorgenfalten auf die Stirn treiben, weil sie sich in ihrer Hilflosigkeit die Frage stellen: „Wo soll das alles nur enden?“
Der amerikanische Sozialpsychologe Thomas Lickona hat darauf hingewiesen, dass Kinder in dieser Zeit zwar moralisch reifen, jederzeit aber auf überwunden geglaubte, unreife Entwicklungsstufen zurückfallen können. So sind in einem Schulkind zugleich moralische Entwicklungsstufen und Anteile eines Kindergartenkindes enthalten. Und so kann es passieren, dass sich ein Elfjähriger so trotzig und aufsässig gebärdet wie ein fünfjähriges Kind.
Zwei Aspekte prägen die Entwicklung zwischen dem sechsten und elften Lebensjahr:
• Es beginnt ein Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit, eine deutliche Abgrenzung von den Eltern. Das Kind nimmt sich als eigenständige Person wahr. Dementsprechend reagiert es auf Konsequenzen bei Regelüberschreitungen: „Ihr seid gemein!“
Lügen sind Teil dieser Entwicklung. Sie sind bewusste Grenzüberschreitungen, um auszutesten, wie weit man es treiben kann.
Allerdings ist es wichtig, Regelverletzungen konsequent zu begegnen. Zwei Empfehlungen dazu:
• Machen Sie um Lügen und Flunkereien nicht zu viel Aufhebens, sondern decken Sie ruhig und beharrlich die Unwahrheit auf!
• Beschämen oder bestrafen Sie das Kind nicht! Ein Vier-Augen-Gespräch trägt mehr zur Moralentwicklung Ihres Kindes bei als Anschuldigungen und Vorwürfe.
Dr. Jan-Uwe Rogge ist Familien- und Kommunikationsberater, Autor von Bestsellern wie „Kinder brauchen Grenzen“ und „Ängste machen Kinder stark“
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