Es gibt Märchen, die zerfallen in zwei Teile: Der erste handelt von der Entdeckung eines hässlichen Entleins, welches sich im Laufe verworrener Erzähl- und Handlungsstränge zur Prinzessin mausert; der zweite von den Verwünschungen und Abenteuern, die auf dem Weg zum endgültigen Glück zu bestehen sind. Die Straßen zum Happy End sind eben steinig und schwer und so kommt es in zahlreichen Märchenerzählungen vor, das einstmals erfolgreiche Handlungsmuster am Ende immer wieder neu aufgefrischt und durchgenudelt werden müssen. Die Geschichte um Vivian Maier, der zu Lebzeiten einsam und prekär dahinlebenden Tochter eines amerikanischen Immigranten, die sich tagsüber als Kindermädchen verdingt hat, während sie in ihrer Freizeit zur heimlichen Königin der New Yorker Straßenfotografie avancierte, ist ein solch mehrteiliges Märchennarrativ: eine tiefgründige Geschichte um Talent, Passion, Herkunft und Schicksal, in die sich zahlreiche Archetypen der Populärkultur verwoben haben.
In gerade einmal vierzig Schaffensjahren soll es diese 2009 im Alter von 83 Jahren in Chicago verstorbene Amateurfotografin geschafft haben, mehr als 150.000 Fotos mit ihrer Mittelformatkamera zu schießen – Bilder vom Leben auf den Straßen der großen US-Metropolen, von der Schönheit des banalen wie tragisch-komischen Alltags. Für Vivian Maier selbst war es eine Art Zwang, so unkontroliert und neurotisch wie das Aufbewahren von wahllos gesammeltem Ramsch, Bergen von alten Zeitungen und eben Tausender belichteter, jedoch unentwickelt gebliebener Filmrollen. Für die Nachwelt aber, die diesen Schatz 2007 während einer Zwangsversteigerung heben sollte, stellt diese Manie einer Unbekannten einen ungeahnten Höhepunkt der amerikanischen Fotografiegeschichte dar – Bilder, die so direkt waren, wie sonst nur bei Diane Arbus und die so unprätentiös daherkamen, wie allenfalls bei Lisette Model. Seit diesem Tag also nahm das Märchen um Vivian Maier seinen Lauf: Was folgte waren Ausstellungen, Bücher, ein abendfüllender Spielfilm. 2015, nachdem die Geschichte um New Yorks skurrilste Nanny bereits international den Zenit überschritten hatte, zeigte der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus die erste, viel beachtete Berliner Maier-Ausstellung. Und jetzt, wo sich der Wirbel um die geniale Gouvernante langsam gelegt hat, folgt der zweite Teil in diesem modernen Märchen. Unter der Überschrift„Vivian Maier: In her own hands“ werden in Berlin zahlreiche weitere Schwarzweißaufnahmen der begnadeten Bildermacherin ausgestellt – Arbeiten, die sich aus der weiteren Erforschung und Entwicklung ihres Werkes ergeben haben: Straßenszenen, Blicke auf Schaufensterauslagen, kleine Selbstportraits. Wie schon in der ersten Ausstellung stammen all diese Abzüge aus der Sammlung von John Maloof, jenes glücklichen Entdeckers, der vor gut zehn Jahren den Maier-Schatz gehoben hatte, und der sich wohl längst ein goldenes Becherlein an der andernfalls vergessenen Cinderella der Vorstädte verdient hat.
Selbstportrait, 1956.
Undatiert.
New York, NY, Juni 1954.
New York, NY, 1953.
Die Ausstellung
Vivian Maier „In her own Hands“ läuft vom 26. September 2018 bis zum 7. Januar 2019 und ist Teil der Ausstellungen zum European Month of Photography in Berlin.
Chicago, IL, 16. Mai 1957.