... Mit Spannung erwartet das Publikum um Mitternacht den Anbruch eines neuen Jahrzehnts, doch es werden nicht die »goldenen« 1920er-Jahre sein, denn die Feier ist geplant für den 31. Dezember 2019.
Partyreihen, Fernsehserien, Bildbände und Kriminalromane lassen die Zeit vor hundert Jahren aufleben. Die Dekade zwischen 1920 und 1930 übt eine große Anziehungskraft aus. Oberflächlich betrachtet wirkt vieles aufregend, sympathisch oder zumindest vertraut modern: freiere Moral und Sitten, die Emanzipation der »Neuen Frau«, das Aufblühen einer queeren Subkultur, Fortschritte in der Wissenschaft, neue Formen der Architektur und Stadtplanung, experimentelle Musik, Literatur und Malerei, der Siegeszug von Massenmedien wie Film und Rundfunk, der Starkult um Sportler und Schauspieler, die Begeisterung für Tempo und Technik. Alles scheint in eine positive Zukunft zu weisen, doch am Ende stehen Radikalisierung und Extremismus, Wirtschaftskrise und der Zusammenbruch der Demokratie, ein neuer Weltkrieg und millionenfacher Mord. Wo enden hier die Analogien zu unserer Gegenwart?
Diese Zusammenhänge, Entwicklungslinien und scheinbaren Gegensätze sind nicht leicht zu erklären, was sicher zur Faszination der Epoche beiträgt. Die Zeitgenossen nahmen die 1920er- Jahre als eine Umbruchszeit wahr. Die Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs, der Sturz der Monarchie und das Chaos der Hyperinflation stellten überkommene Gewissheiten infrage.
Die einen stürzen sich in den Trubel, die anderen propagieren Hass und Gewalt
»Was jetzt kommt, weiß niemand«, schrieb der Journalist Kurt Tucholsky 1920 in der »Weltbühne «. Das Gefühl, dass die neue Republik nur ein Provisorium sei, man sich angesichts von Putschversuchen und politischem Terror in einem latenten Kriegszustand befände und ein zweiter großer Krieg bevorstünde, war weit verbreitet. Linke wie rechte Extremisten kritisierten Bürgertum und Bürgerlichkeit, träumten von der Weltrevolution oder sehnten einen cha- rismatischen Führer herbei. Die Propagierung von Hass und Gewalt vergiftete das gesellschaftliche Klima, »eine Orgie der Verhetzung«, wie der Maler George Grosz später bemerkte.
Detlef Berghorn
Der Autor des G/GESCHICHTE-Essays arbeitet als Historiker und Redakteur in Hannover und Berlin. Er promovierte 2018 und porträtiert in einem neuen Bildband das Leben der 20er-Jahre in den Metropolen der Welt (siehe Lesetipp rechts unten)
Es fehlte nicht an Visionen und konstruktivem Gestaltungswillen. Die Unsicherheit barg Risiken und Chancen. Man konnte sich in den Trubel stürzen, die neuen Freiheiten genießen, mit künstlerischen Ausdrucksformen, Lebensentwürfen und Geschlechterrollen spielen. Auf der anderen Seite standen jedoch die drückenden politischen und ökonomischen Probleme. Der als ungerecht empfundene Versailler Friedensvertrag sowie die damit verbundenen Reparationszahlungen und Gebietsabtretungen belasteten die Weimarer Republik von Anfang an. Krieg und Inflation hatten Ersparnisse vernichtet. Wohnungsnot und massenhafte Arbeitslosigkeit gehörten zum Alltag. Viele trauerten einer verklärten Vergangenheit nach, einem traditionellen Kulturbegriff und Bildungsideal. So waren den progressiven Tendenzen, die heute das Bild der »goldenen« 20er-Jahre wesentlich prägen, immer auch konservative, nationalistische und revisionistische Positionen entgegengesetzt. In diesen Widersprüchen sah der Psychiater und Schriftsteller Alfred Döblin das »Durcheinander […] zweier Epochen«, und der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder sprach von der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«.
Die Weltwirtschaftskrise setzt dem »Großexperiment« ein plötzliches Ende
Die fortschreitende Technisierung, Rationalisierung und Beschleunigung der Lebenswelt wurden durchaus kritisch gesehen, ebenso die kommunikative Vernetzung und soziokulturelle Nivellierung der Menschen. Der Soziologe und Journalist Siegfried Kracauer etwa beklagte die Verflachung einer Massenkultur hin zur bloßen Zerstreuung. In diesem Sinne erschienen besonders die Metropolen, allen voran das »Sündenbabel« Berlin, als Orte der Verwahrlosung und des Niedergangs. Hier boten Tanzpaläste, Revuetheater und Großkinos, Vergnügungsparks und Sportereignisse, exklusive Nachtklubs wie billige Kaschemmen eine Flucht aus dem Alltag. Prostitution und Drogenhandel blühten – ein »Tanz auf dem Vulkan «, wie sich bald zeigte.
Denn die Weltwirtschaftskrise 1929 setzte der kurzen Phase einer politischen und ökonomischen Stabilisierung ein jähes Ende. Mangelnde Kompromissbereitschaft der Parteien, Legitimitätsverlust des demokratischen Systems und die Angst vor einem Bürgerkrieg, zuletzt die Selbstüberschätzung der Konservativen im Umgang mit den Nationalsozialisten zerstörten das »Großexperiment der klassischen Moderne«, wie der Historiker Heinrich August Winkler die Zeit der Weimarer Republik rückblickend bezeichnete.
LESETIPP
Detlef Berghorn und Markus Hattstein: »The Roaring Twenties. Die wilde Welt der 20er«. 208 Seiten mit 100 Illustrationen. wbg Theiss 2019, € 25,–
BILDNACHWEIS: CAROLINE PITZKE