... dass Maria Anna Leenen zwei Wochen nicht wegkommt. Tage in Stille erlebt sie dann. Kein Radio, das dudelt, niemand, der aus dem Fernseher gegen die Einsamkeit anquatscht. Maria Anna Leenen verzichtet bewusst auf solche Reizquellen, sie will sich nicht ablenken lassen, sagt sie.
Die 63-Jährige ist Eremitin. Sie pflegt einen Lebensstil, der sich dem Weltlichen entsagt. „Dem Weltlichen, nicht der Welt“, betont sie. Zu der fühle sie sich zugehörig.
Ihr erster Gang am Morgen führt sie in die Kapelle. Ein paar Hocker stehen am Boden, Kerzen. Maria Anna Leenen verneigt sich. Andächtig wirkt die sonst vor Energie sprühende Frau jetzt, sie hat sich einem steinernen Turm in der Ecke des Raums zugewandt. Dem „Tabernakel“, wie sie erklärt. Dass dies der Aufbewahrungsort für die Hostie ist. Und dass die Hostie „das Allerheiligste“ ist: „Jesu Gegenwart ist in diesem kleinen Stück Brot.“
Die innere Einkehr zieht sich mit Lesungen und Stundengebeten wie ein roter Faden durch den Tag. Und dazwischen? „Die meisten haben ein völlig falsches Bild“, beklagt Leenen, „Sie denken bei Eremiten an alte Männlein, die im Wald sitzen und mit den Vögeln sprechen.“ Blödsinn, sagt sie.
Einst haben Eremitinnen Altarwäsche gestickt und Abschriften von Büchern angefertigt, als es noch keine Druckereien gab. Immer waren sie auf sich gestellt, mussten für ihr Auskommen sorgen. Das wenige Geld, das Maria Anna Leenen zum Leben braucht, versucht sie, übers Schreiben zu verdienen. Christliche Bücher verfasst sie, Berichte für Kirchenblätter. Neuerdings stopft sie damit ein paar Münder mehr. „Ziegen wollte ich schon immer haben“, sagt Leenen, und an dieser Stelle meint man, sie ertappt zu haben: geselliges Meckern als Trick gegen schwer zu ertragende Einsamkeit? „Es wurde mir zu viel, das Gras ums Haus zu mähen“, stellt Leenen aber schon im nächsten Satz klar. Hinzugekommen sind dafür Wald- und Wiesen- Spaziergänge mit der achtköpfigen Herde. Klingt ein bisschen nach Streichelzoo. Für Leenen aber stehen die Ziegen für mehr: „In der Bibel ist die Ziege Sinnbild für das Laster, den Unglauben.“ Für Ungläubige zu beten ist ihr ein wichtiges Anliegen. Die Ziegen erinnern sie daran, sind ein „Hinweis“.
Christlicher Alltag
Pax et Bonum, also Friede und Heil, erfährt Maria Anna Leenen durch ihre Art zu leben. In ihrer Kapelle entzündet sie täglich Kerzen, die sie selbst zieht
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So wie es stets Hinweise in ihrem Leben gab. Der erste kam mit Wucht und ist im Grunde der Beginn dieser Geschichte, die Maria Anna Leenen auch „Achterbahnfahrt mit Ohrfeigenmaschine“ nennt. Abenteuerlustig war sie, hatte Hobbys wie Reiten oder Tiefseetauchen – und mit 28 und einer Ausbildung als Bewegungstherapeutin verspürte sie den unbedingten Wunsch, ins Ausland zu gehen. „Freunde hatten eine Büffelfarm in Venezuela gefunden, die Arbeiter suchte“, erzählt Leenen. Einer der Freunde sei eine heiße Liebe gewesen. Schon bald ging die tägliche Arbeit routiniert von der Hand. Bis zu diesem einen Tag, als ihr ein Buch über Marienerscheinungen in die Hände fiel. Schwachsinn, dachte sie. Doch: „Beim Lesen war es, als gäbe es da ein Seil in meinem Herzen, und er zieht daran.“ Er – Gott. Unmöglich sei es gewesen, sich dieser Kraft zu entziehen.
Fast 30 ist sie, als sie zurück nach Deutschland kommt. Ihr erster sichtbarer Schritt auf dem Weg zu Gott: Sie tritt aus der evangelischen Kirche aus und in die katholische ein. Kopfschütteln allerorten: Wenn man irgendwo austrete, dann doch wohl aus der katholischen Kirche. Aber da ist dieses Seil, und das zieht genau in diese Richtung. Mit Anfang 30 geht sie in ein Kloster. Drei Jahre ringt sie mit sich. Schließlich steht sie vor der Äbtissin, sagt, dass Gott etwas anderes für sie vorsieht: „Ein Leben ganz allein mit ihm.“ Aus der Initialzündung wurde Berufung. „Ich wusste, dass ich etwas werden musste oder bereits war, was es längst nicht mehr gab und für das ich nirgends nach Vorbildern suchen konnte. Es war schlicht zum Verrücktwerden.“
Einfach losgezogen sei sie, um nach einem passenden Ort zu suchen. Nach dem, was in der Literatur „Klause“ hieß. Bis es einen Hinweis gab – wieder einmal. Eine alte Flüchtlingsbaracke stünde abseits des Dorfes, sagte ihr jemand. Pumpe statt Wasseranschluss. Plumpsklo. Egal. Viel gelernt hat sie in all den Jahren. Allem voran aber: sich den eigenen Ängsten zu stellen. Einmal kamen zwei Männer, die einen Ofen lieferten. Zweideutige Blicke: „Und Sie sind also ganz allein hier?“, fragten sie. „Mein Mann ist nur mit dem Hund raus“, sagte sie. Ihr Fazit: „Ich habe eine große Klappe, das hilft.“ Und dass sie sich nicht so schnell in etwas reinsteigere. Eine knarrende Tür ist eine knarrende Tür, Punkt.
Eine „verdammt harte Zeit“ nennt sie die ersten Monate in der Abgeschiedenheit ohne Geld dennoch. Hunger hat sie gelitten. Gefroren hat sie. Manchmal legten Bauersleute Brot vor die Tür oder ein paar Eier. Eine Fremde war sie, für viele wohl auch eine Spinnerin. Auch die Freunde aus der Stadt, in der sie einst gewohnt hatte, dachten so. Die Freunde, die keine mehr waren, nachdem man noch schnell geraten hatte, sie solle sich doch einfach mal untersuchen lassen.
Nie wird sie vergessen, wie ein befreundeter Pfarrer sie eines Sonntags im Gottesdienst vorstellte: „Seit mehreren Jahren wohnt unter Ihnen ein Mensch, der ein ganz spezielles Leben führt …“ Sie hört noch das Raunen. Keine „Hartz-IVSchlampe“ also. Seit dem „Outing“ – wie sie es nennt – wurde sie immer öfter angesprochen. Ob man sie nicht ein Stück mit dem Auto mitnehmen, mal zum Kaffee einladen dürfe. Ob sie nicht für diesen oder jenen beten könne. „Du hast doch da einen so guten Draht.“ Stimmt, sagt sie, und der hätte ihr ja auch immer wieder geholfen.
Mehr als ein Streichelzoo
Mit den Tieren zu leben und sie zu beobachten erfüllt Maria Anna Leenen immer wieder mit Dankbarkeit und Demut vor der Schöpfung
Tägliche Spaziergänge
Ihre insgesamt acht Zwergziegen halten das Gras kurz und sorgen für viel Bewegung
Seit 16 Jahren lebt sie nun im Backsteinhäuschen. Eingebunden ins dörfliche Geschehen, mit regelmäßigem Kontakt zum Bruder und dessen Familie – und doch auch mit ausreichend Abstand.
Bewegt klingt Maria Anna Leenen, wenn sie von den Recherchen für ein Buch über eremitisches Leben spricht. Sie schrieb Briefe an Menschen, von denen es hieß, sie würden ähnlich leben wie sie. Zehn kamen zur Feier der sogenannten ewigen Profess. „Endlich wusste ich, dass ich nicht die einzige bin, die so bescheuert ist!“ Lauter lebenspraktische, handfeste Leute seien da mit ihr am Tisch gesessen. Keine Träumer oder Schwärmer.
Alle drei Jahre gibt es ein Treffen. Networking? Nein, das wäre zu viel. Dafür ist der Herr zuständig, findet Leenen. Und meist ist sie ja sowieso nicht die, die sucht, sondern die, die gefunden wird. Obwohl kaum einer ihre Adresse hat, obwohl kein Navi die Klause kennt. Trotzdem passiert es, im Sommer manchmal täglich, dass jemand vor der Tür steht. Die schwer krebskranke Frau. Eine, deren Sohn verunglückt ist. Meist hört sie dann einfach nur zu. Wird sie konkret gefragt, weiß sie Rat: zehn Minuten Stille am Tag, um in Kontakt zu kommen. Sie selbst hat die Übung einmal quasi andersrum gemacht, vor ein paar Jahren: Ihr kleiner Neffe hatte sich so sehr gewünscht, ins Kino zu gehen. Sie sahen „Der kleine Nick“. Aßen Popcorn und Pommes. Die Stadt hat sie erschlagen. Als sie am Abend zurück in die Klause kam, war sie froh. Um die Stille. Aber auch: um das, was sie erlebt hatte. Als Bestätigung: So, wie es ist, ist es gut.
Persönlicher Gottesdienst
Auch Besucher sind herzlich eingeladen, am Gottesdienst teilzunehmen
Geistige Arbeit
In ihrer kleinen Klause gibt es auch ein Arbeitszimmer. Lesen und schreiben ist mehr als bloßer Zeitvertreib. 17 Bücher hat die Eremitin bisher veröffentlicht
Hirte und Herde
In der Bibel stehen Ziegen als Metapher für die Menschen, die nicht glauben können. Für die zu beten ist ihr ein wichtiges Anliegen
Hauseigene Kapelle
Maria Anna Leenen mit Weihrauch in ihrer Kapelle. Im Hintergrund das Tabernakel, in dem die Hostie, der Leib Jesu, aufbewahrt ist
Fotos: Jonas Wresch (7), dpa picture alliance (4)