... viel mehr Dingen abhängt, die unser Körper an ganz anderer Stelle gelernt hat. Ob Emil also beim Schreiben Schwierigkeiten haben wird? Bald werden wir es wissen, denn er ist seit einigen Monaten Grundschüler.
AUSDAUER UND GEDULD SIND WICHTIG
Um flüssig schreiben zu lernen, müssen Kinder einige Voraussetzungen erfüllen, erklärt Ergotherapeutin Jutta Junker: „Die Kinder brauchen Ausdauer, Motivation, Wissensdurst, sie müssen sich konzentrieren und Frust aushalten, aber auch ruhig sitzen können.“ Entsprechende Übungen in den Jahren vor Schulbeginn seien eine wichtige Grundlage. Zum Beispiel bereiten regelmäßige Schwungübungen in der Kita oder der Vorschule auf das Schreibenlernen vor.
In der Regel entwickeln Kinder sich zunächst grobmotorisch, später kommen feinmotorische Bewegungen wie die beim Schreiben dazu. Wer sich ausreichend bewegt, hat in den meisten Fällen im entsprechenden Alter auch eine gute Körperspannung, um für immer längere Zeit sitzen zu können. Dann kommen „genügend Handkraft und eine passende Kraftdosierung, feinmotorische Geschicklichkeit, flüssige Bewegungsmöglichkeiten der Finger-, Hand- und Armmuskulatur“ hinzu, sagt Junker.
Dabei ist eine gute Grobmotorik allerdings nicht immer ausreichend als Voraussetzung für die Feinmotorik. Junker kennt Kinder, die sich viel und gut bewegen, aber dennoch beim Schreiben Schwierigkeiten haben.
ÜBUNG MACHT DEN MEISTER
Die Ursache dafür liegt häufig darin, dass die Kinder zu wenig Übung haben. „Schreiben ist wie Fahrradfahren“, erklärt Anne Münch, die als Ergo- und Handtherapeutin in München arbeitet: „Beides muss man ausprobieren, oft genug üben und dadurch automatisieren.“ Das ist aber heute nicht immer gegeben.
In Kitas mit freien Konzepten, wie unserer, mussten die Kinder nicht jede Woche ein Bild malen oder an Bastelaktivitäten teilnehmen. Wenn die Betreuungspersonen nicht darauf achteten, suchten sich dann gerade jene Kinder, die ohnehin feinmotorische Probleme haben, andere Beschäftigungen und meiden, was ihnen schwerfällt. Das fällt umso leichter, wenn sie keine Vorschule besuchen: „Oft merkt man den Kindern an, wenn sie nicht in der Vorschule waren, weil sie dann noch nicht so sicher mit dem Stift umgehen“, sagt Münch.
AUCH KÖRPERLICHER AUSGLEICH ZÄHLT
Auch in der Schule üben die Kinder heutzutage nicht mehr genug, meint Jutta Junker. Viele Wiederholungen seien nötig, um einen Buchstaben wirklich zu verinnerlichen und flüssig schreiben zu können: „Früher wurden Buchstaben in die Luft geschrieben, mit Kreide auf kleine Tafeln, mit dem Finger in den Sand, Buchstaben wurden geknetet. Da haben die Kinder die Buchstaben mit allen Sinnen erfahren.“ Das fehle heute oft völlig.
Kindern, die viel Zeit am Computer, einer Spielekonsole oder dem Smartphone verbringen, fehle zudem der körperliche Ausgleich. Sie schulen ihre Motorik zu wenig, beispielsweise in handwerklichen Techniken, und könnten laut Junker oft nur am Tisch „hängen“ oder nicht still sitzen. Laut Kollegin Münch weisen diese Kinder auch oft eine unzureichende Körperwahrnehmung auf. Dabei sei diese grundlegend, um mit einem Stift umgehen zu können.
SPIELERISCH DEN STRESS RAUSNEHMEN
Wie kann man Kindern mit Schreibproblemen also helfen? Junker hat viele Anregungen, mit denen sie bei ihrer ergotherapeutischen Arbeit gute Erfolge erzielt und die Eltern auch zu Hause einsetzen können: „Auf jeden Fall sollte man viele spielerische Elemente einbauen, damit die Kinder Spaß dabei haben. Durch Freude entsteht Motivation. Kneten und mit Wasserfarben malen macht vielen Kindern Spaß.
Man kann Mulden in die Knete drücken und Murmeln oder Steinchen darin verstecken, die die Kinder herausholen sollen. Oder man zerreißt Krepppapier in kleine Schnipsel, formt daraus Kügelchen und klebt sie zu einem Bild auf. Sie können auch kleine Gegenstände aus einem Behälter mit Erbsen oder Linsen herausfischen“, schlägt die Expertin vor. Auch Münch bestätigt, dass anstrengende Übungen – also Schreibübungen und Wiederholungen – auch zu Hause mit Spielen aufgelockert werden sollten. Beispielsweise könnten Kinder mit Essstäbchen Weintrauben aus einer Schüssel angeln.
Junker betont, dass Eltern ihr Kind immer dafür loben sollten, wenn es etwas gemalt und sich beim Schreiben Mühe gegeben hat. Ein mit Einsatz gemaltes Bild sollte man aufhängen, egal, wie es aussieht – das motiviert. Kinder können auch schon früh in Alltagsaufgaben mit einbezogen werden und zum Beispiel im Garten den Rasen mit mähen oder handwerklich helfen. All das schult die Feinmotorik.
HILFE ANNEHMEN
Manche Kinder verbinden mit dem Schreiben trotzdem vor allem Frust und Ärger. Wenn ein Kind partout keinen Stift in die Hand nehmen will, mit fünf Jahren noch keine feste Händigkeit (links oder rechts) entwickelt hat, die Schrift im ersten Schuljahr nicht lesbar ist, das Kind beim Schreibtempo nicht mitkommt oder ihm beim Schreiben die Finger wehtun, sollten Eltern das Gespräch mit Erziehern oder Lehrkräften suchen. Sinnvoll ist dabei, auch das Kind mit einzubeziehen.
Oftmals können die LehrerInnen gezielte Übungen und Tipps anbieten oder vorschlagen, um die Feinmotorik weiter zu schulen. Reicht das nicht aus, sollten Eltern sich nicht scheuen, professionelle Unterstützung zu suchen: Eine Ergotherapeutin oder ein Ergotherapeut kann helfen herauszufinden, wo genau das Problem liegt und welche Übungen dem Kind nützen.
TEXT: IRLANA NÖRTEMANN
THERESAS ERFOLGSERLEBNIS
Ein Fallbeispiel aus der Ergotherapie-Praxis von Anne Münch:
„In meine Praxis kam Theresa am Ende der ersten Klasse, sie war sechs Jahre alt. Ihrer Mutter war aufgefallen, dass Theresa den Stift nicht richtig greift, beim Schreiben langsam ist, aber eine schöne Schrift hat. Ich schaue mir Theresas Hefte an und mache eine Schreibprobe. Ich überprüfe ihre Körper-, Sitz- und Stifthaltung und schaue mir ihre Basismotorik und Stiftführung, Schreibmotorik und Wahrnehmung an. Dafür nutze ich einen digitalen Stift (den ,Ergo-Pen‘ von Stabilo), der Schreibauffälligkeiten auf eine App überträgt und altersentsprechend auswertet. Er misst die Parameter Stifthaltung, Schreibwinkel, Tempo, Automation und Schreibfrequenz.
Nach der ersten Stunde ist klar, dass Theresa aufgrund ihrer falschen Stifthaltung die Finger nicht richtig bewegen kann, wodurch sie verkrampft und zu stark aufdrückt. Sie schreibt viel zu langsam. Das liegt daran, dass Theresa die Buchstaben zeichnet, damit sie schön aussehen und perfekt in die Zeile passen. Doch so kann sie das Schreiben nicht automatisieren.
Wir machen Übungen zur Stifthaltung und Finger- und Handbeweglichkeit sowie Schwungübungen, zum Teil mit geschlossenen Augen. Zu Hause soll sie jeden Tag zehn bis fünfzehn Minuten spielerisch üben.
Nach zehn Therapieeinheiten kann das Mädchen den Stift richtig greifen und schreibt dadurch mit weniger Druck. Nach dem Üben der Automation kann sie Buchstaben schneller abrufen, dadurch schreibt sie schneller. Allerdings ist ihre Schrift nun nicht mehr perfekt. Aber sie ist immer noch einwandfrei lesbar.“