... wochenlanger Schiffspassage aus allen Teilen der Welt angereisten Journalisten berichteten ausschließlich positiv, fast überschwenglich von dieser Glanzleistung. Auch beim Publikum fand das Fahrzeug, welches von ihm bereits während der Jungfernfahrt auf den klingenden Namen „Fliegender Hamburger“ getauft wurde, sofort enormen Anklang.
Dabei war der Erfolg dieses Zuges zwingend notwendig: Um 1930 sah sich die Bahn erstmals in der Zeit ihres Bestehens mit der Situation konfrontiert, nicht mehr das modernste, schnellste und damit beachtenswerteste Verkehrsmittel zu sein. Wer es sich leisten konnte, legte sich für kurze bis mittlere Distanzen nun ein eigenes Auto zu, während die kaufkräftigste Klientel der Geschäftsreisenden trotz Weltwirtschaftskrise und aller Komforteinschränkungen das Flugzeug für weite Reisen vorzog.
Die Reichsbahn war also zum Handeln gezwungen, wenn Sie die Kundschaft der höheren Wagenklassen nicht gänzlich an die jüngere Konkurrenz verlieren wollte. Es musste folglich ein Zug geschaffen werden, der bequemes Reisen mit hohem Tempo verband. Ein Dampfzug schied wegen seiner herkömmlichen Ausstrahlung und der hohen Entwicklungs- und Betriebskosten von vornherein aus. Zu speziell durfte ein besonders schneller Zug allerdings auch nicht geraten, denn ein vielbeachtetes Experiment in dieser Richtung, der „Schienenzeppelin“ von Franz Kruckenberg mit seinem Propellerantrieb, war vorhersehbar an seiner mangelnden Alltagstauglichkeit gescheitert. Da die Reichsbahn schon einige, oft gute Erfahrungen mit Dieseltriebwagen gesammelt hatte, setzte sie dort an.
Spitzentechnik von WUMAG, Maybach und Siemens
Im Herbst 1931 wurde die für ihre Fortschrittlichkeit und Innovationskraft schon damals bekannte Waggon- und Maschinenbau-AG Görlitz, kurz WUMAG, mit der Konstruktion und dem Bau eines Schnelltriebwagens beauftragt. Die Görlitzer Ingenieure taten sich sogleich mit ihren Friedrichshafener Kollegen von Maybach für die Dieselmotoren und Siemens-Schuckert in Berlin für die Generatoren und Traktions-Elektromotoren zusammen, da der dama- lige Stand der Antriebstechnik für ein dieselelektrisches Fahrzeug sprach. Es wurde ein sehr geschickter Grundaufbau gewählt: Zwei schnelllaufende Zwölfzylinder-Viertakt-Dieselmotoren ohne Turboaufladung vom neu entwickelten Typ GO 5 kamen samt der Gleichstromgeneratoren direkt in den beiden äußeren Drehgestellen unter. Die in Tatzlager-Aufhängung ausgeführten Elektro-Traktionsmotoren ruhten dagegen auf den Radsatzwellen des mittleren Drehgestells, welches als so genanntes Jakobs-Drehgestell beide Hälften des zweiteiligen Triebwagens miteinander verband. In dieser Weise ergab sich eine sehr günstige Gewichtsverteilung auf allen Achsen.
Auch beim Wagenkasten konnte die WUMAG neue Wege beschreiten: Er wurde als selbsttragende Spantenkonstruktion ausgeführt und fast vollständig geschweißt. Besonders aufwendig geriet die Gestaltung der Fahrzeugfronten, deren strömungsgünstige Form zuvor bei der Zeppelin GmbH anhand von Modellen im Windkanal geprüft wurde. Der neue Triebwagen wurde so zum ersten Stromlinienzug der Welt!
Im Herbst 1932 war das von der Reichsbahn schlicht als „Verbrennungstriebwagen 877 a/b“ bezeichnete Fahrzeug nach einem Jahr Bauzeit fertiggestellt. Über 100 Fahrgäste konnten in den beiden Großräumen der Zweiten Klasse reisen, dank einer Gesamtleistung von 820PS mit bis zu 160 km/h. Neu waren auch die Druckluft-Trommelbremsen und die Magnetschienenbremse, die zusammen mit der Sicherheitsfahrschaltung der rasanten Fahrt im Notfall Einhalt geboten. Da die Reichsbahn dem VT 877 auch optisch einen besonderen Status verleihen wollte, wurde ihm das ausgesprochen elegante „Rheingold“-Farbschema in Violett und Elfenbein zuteil.
Der „Fliegende Hamburger“, stets ein besonderer Zug
Nach der erfolgreichen Premiere im Dezember 1932 folgten einige Monate des Mess- und Versuchsbetriebs mit dem „Fliegenden Hamburger“, wie der VT 877 nun sogar seitens der Reichsbahn in der Werbung genannt wurde. Der Planeinsatz zwischen Hamburg und Berlin begann am 15. Mai 1933. Auch im Regelbetrieb durfte er dank einer Sondergenehmigung – damals galt auf dem Reichsbahn-Netz eine Höchstgeschwindigkeit von 120km/h – sein volles Tempo ausfahren, so dass er die 286 Kilometer lange Strecke in etwas über zwei Stunden bewältigen konnte. Erst seit dem Ausbau zur ICE-Strecke 1997 sind die Züge auf jener Verbindung schneller unterwegs. Der „Fliegende Hamburger“ war trotz eines gesonderten Preisaufschlags meist auf Wochen im Voraus ausgebucht, denn wegen der geringen Platzzahl mussten die Fahrkarten fest reserviert werden. Er galt als einer der rentabelsten Züge der Reichsbahn, selbst die häufigen Stillstandszeiten (es fuhr dann ein 03-bespannter, deutlich langsamerer Ersatzzug) wegen Motorausfällen und Wartungsarbeiten schmälerten seine Popularität kaum. Erst der Kriegsausbruch 1939 führte zu seiner Abstellung.
Nach 1945 wurde er, nun als VT 04 000 bezeichnet, von der französischen Besatzungsmacht als „Schnelltriebwagen Rhein-Main“ auf der Oberrheinstrecke eingesetzt, ehe er an die junge Bundesbahn übergeben wurde. Seit 1952 trug er den üblichen purpurroten Anstrich der DB-Triebwagen, wurde technisch überholt (Nachrüstung Vielfachsteuerung) und als VT 04 000 a/b eingereiht. Ab Jahresende 1955 kam er wieder von Hamburg aus zum Einsatz, in den Verstärker-Umläufen des Kopenhagen-Express nach Großenbrode Kai. Am 29. Juni 1957 erfolgte die Ausmusterung.
Angeblich wegen Platzmangels sicherte sich das Verkehrsmuseum Nürnberg 1960 nur die Stirnseite des a-Wagens, der Rest des „Fliegenden Hamburgers“ wurde völlig ungeachtet seiner herausragenden eisenbahngeschichtlichen Bedeutung einfach verschrottet.
Alexander Bergner