... ich per Los eine Volksversammlung zusammenstellen lassen, die ab Freitag dieser Woche‹« – es war schon Donnerstag! – »›die Gesetze machen und eine Regierung der nationalen Versöhnung bestimmen soll. Pro eine Million Deutschen wurden 10 Bürger aus dem Zentralrechner benannt, also 831 Leutchen allerlei Geschlechts. Und Sie, Herr Doktor Wedel, sind dabei. Sie können dieser ehrenvollen Berufung nur ausweichen, wenn Sie nicht geimpft sind oder wahlweise an multiplem Organversagen dahinsiechen. Ich weiß, dass Sie wegen Trunkenheit am Steuer mehrfach vorbestraft sind, bei der Stasi waren …‹« – die Schmidten hielt inne und erbleichte: »Hab’ ich mir’s doch gedacht«, sagte sie.
»Weiter«, sagte ich.
»›… und Maoist sind. Das ist in dieser kafkaesken Lage aber völlig wurscht, um es volkstümlich zu sagen.‹«
»Ha, ›kafkaesk‹! Dieser Schwadroneur, dieser Schleimscheißer!«, sagte ich.
»›Mit einem völkischen Rot Front! Ihr Frank- Walter. PS: Das Amt des Bundespräservativs schaffen wir ersatzlos ab. Stattdessen mache ich den Kanzler.‹«
»Das werden wir doch mal sehen«, sagte ich. »Schmidten, meinen Zweireiher und eine frische Unterhose!«
Dann die Formalitäten: Ich solle – noch heute! – möglichst unbeobachtet den Zug nehmen, mich bei der Fahrscheinkontrolle flüsternd als Mitglied der Volksversammlung erklären, der Bahnvorstand wisse Bescheid. Auf den Verkehrsmitteln solle ich mich in keinerlei Gesprä-che verwickeln lassen, insbesondere keine poli- tischen Aufträge, wie Enteignung der Großban- ken, Erschießung von diesem und jenem u.ä., entgegennehmen Die Unterbringung erfolge in der einstigen FDJ-Hochschule am Bogensee, ich wisse schon, Goebbels’ Liebesnest. Leider habe man nur Zimmer mit je vier Stockbetten für acht Personen und gemeinsame Waschräu- me. Es gäbe zwanzig Euro Tagegeld und täglich einen Verpflegungsbeutel mit Bio-Produkten aus der Region. Am Sonntag unternähme die Volksversammlung einen Ausflug mit ge- schmückten Kremsern nach dem nahegelegen Wandlitz, um gemeinsam das Schlupfloch des letzten deutschen Diktators zu besichtigen und sich ein wenig zu gruseln.
Ich fuhr sofort los, zweiter Klasse. Im Zug saß mir eine Frau gegenüber, die mir auf An- hieb gefiel, wegen ihrer schönen Arme. »End- lich knallt’s aber richtig!«, rief ich. »Diese Scheißdemokratie, das war ja nicht zum Aus- halten.«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte sie wohlriechend, »wollen wir uns küssen?« Ich herrschte die Zugbegleiterin an, ihr Dienstab- teil für uns beide freizumachen wegen wichtiger Regierungsgeschäfte, denn ich sei Mitglied usw.
»Du auch?«, jubelte die hübsche Frau, sie hieß Renate. »Ich auch! Ich vertrete 100 000 Deutsche bei der Regierungsbildung, darunter viele cis-Männer, wenn du weißt, was das für eine ekelhafte sexuelle Verirrung ist, aber auch Leute, die konsequent laktoseabstinent leben, und Menschen in fahrbaren Minihäusern und Reichsdeutsche, die die Sprache ihrer Schäferhunde sprechen, akzentfrei. Sie alle haben unseren Respekt verdient.« Wir trieben es miteinander bis Berlin Hbf. Und verbündeten uns nolens volens natürlich auch politisch, dem Steinmeier seine Kanzlertour zu vermasseln.
So konnte das ja nicht weitergehen da oben. Der Bundestag repräsentiert seit langem nicht mehr die Bevölkerung. Denn die Bevölkerung besteht nicht nur aus Anwälten und Notaren, Pfarrern, abgebrochenen Studenten auf Lehramt Deutsch, Söhnen von Diplomaten, Unternehmern, die mit Corona-Masken handeln, und der Brut hoher Militärs und langgedienter Staatssekretäre. Die Bevölkerung besteht auch aus mir, Renate und der Schmidten. Auch wir tragen die Sehnsucht in der Brust, uns einmal von Lobbyisten bestechen zu lassen. Und die Sorge um unsere schöne deutsche Heimat (obwohl: Wir Maoisten haben kein Vaterland!). Nicht nur das Problem, ob man jetzt ordentlich »Taliban:In«, »Terrorist:In« und »Faschisten und Faschistinnen« sagen muss oder ob Lastenräder für den Transport von Schulanfängern auf der Autobahn die LKW-Spur benutzen müssen, nur nicht an Wochenenden, sollte das Wohl und Wehe unserer Nation bestimmen. Sondern das, was wirklich wohl tut und wehe macht. Deshalb hat schon der alte Aristoteles einem Schüler ins Poesiealbum geschrieben, »dass es als demokratisch anzusehen ist, wenn die Herrschenden durch das Los bestimmt werden, während Wahlen als oligarchisch betrachtet werden müssen«.
Oligarchia = Herrschaft der Wenigen! – Unter dieser Knute vegetieren wir! Wie bei Erdogan, Putin und Bodo Ramelow!
Im großen Saal, unter dem Bildnis des gütigen Wilhelm Pieck, ging es nicht so brav zu wie beim chinesischen Volkskongress, nach dessen Vorbild unsere Volksversammlung sich konstituieren sollte. Es hatte nicht mal jeder eine eigene Tasse. Wolfang Schäuble rollte herein, um Kampfesgrüße von Helmut Kohl zu überbringen. Er kam gar nicht zu Wort. »Die Revolution frisst ihre Alten!«, rief er verzweifelt. Dann machte ein Gerücht die Runde. Die Merkel hat nur drei Kilometer Luftlinie vom Bogensee entfernt ihre Datsche. Sie warte dort mit duftendem Pflaumenkuchen, um die Macht zu übernehmen.
Dann brach die Sache beinahe völlig auseinander. Das Statistische Bundesamt, hieß es plötzlich, habe errechnet, dass unter den 831 Mitgliedern der Volksversammlung deutlich zu wenige Nazis vertreten seien. Man müsse jedoch von einem »Bodensatz« von 20 Prozent Rassisten, Judenhassern und ausgemachten Faschisten hierzulande ausgehen. Diese Bevölkerungsgruppe dürfe in ihren Rechten nicht verletzt werden. Freiwillige wurden gesucht, die sich zum Dritten Reich bekennen. – Trotz dieser Anlaufschwierigkeiten ist das Losverfahren einfach klasse, denn endlich wird das Privileg der Akademiker gebrochen, die den Bundestag seit vielen Legislaturperioden beherrschen. Der neue Abgeordnetentyp ist bescheiden, aber ungebildet. Und natürlich absolut unbestechlich.
Da sah ich, wie meine Renate lachend mit einem geschniegelten Lobbyisten der Pharma - industrie in einem der Gemeinschaftswaschräume verschwand. Ich schwitzte, zitterte. »Renate, Renate, Re-na-tee!«, rief ich, heiße Tränen rannen mir über das Gesicht und irgendwer klapperte mit dem Frühstückstablett.
»Aber da bin ich doch!«, antwortete die Schmidten vor meinem Bett. »Ist das schön, Herr Doktor! Zum ersten Mal haben Sie mich bei meinem Vornamen genannt!«
MATHIAS WEDEL ZEICHNUNGEN: BURKHARD FRITSCHE