... Ich wusste damals, dass ich mein Leben ändern muss, sonst wäre ich zusammengeklappt.“ Sie nutzt den Crash für eine zweite Chance, reduziert ihre Arbeitszeit als Projektleiterin von 40 auf 28 Stunden (Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet in der Automobilbranche tätig ist) und schlägt die angebotene Führungsposition aus. „Der Unfall hat mir deutlich gemacht, was mir im Leben am wichtigsten ist: meine Familie und Erholungszeiten für mich“, sagt sie. Denn ohne Pause arbeiten, das schafft auf Dauer keine*r – zumindest nicht ohne Burn-out.
WARUM MUSS ERST ETWAS PASSIEREN, DAMIT WIR KÜRZERTRETEN?
Kurz vorm Burn-out … So fühlt sich laut Studien jede*r Zweite in Deutschland. Warum das so ist, dafür hat die Arbeitssoziologin Julia Gruhlich diese Erklärung: „Hauptauslöser ist die Art und Weise, wie sich unsere Arbeit gewandelt hat. Problematisch ist deren Verdichtung, also das hohe Pensum, das Verschwimmen der Grenzen, der Druck, flexibel und immer erreichbar sein zu müssen.“ Eigentlich logisch, dass das auf Dauer nicht gut für uns ist, und trotzdem braucht es wie bei Irmi Ditzell oft ein einschneidendes Ereignis, damit wir beruflich kürzertreten. Schließlich verlieren Ausbildung, Qualifikationen, kurz, all das, was man sich im Job mit viel Zeit und Mühe erarbeitet hat, dadurch unter Umständen an Wert, wie Julia Gruhlich betont.
Downshifting, wie man den freiwilligen Verzicht auf eine Führungsposition oder den Wechsel von Voll- in Teilzeit nennt, scheint in unserer leistungsorientierten Gesellschaft noch nicht so angesagt zu sein. Exakte Zahlen, wie viele Menschen diesen Schritt bisher gewagt haben, gibt es noch nicht. Doch immerhin gibt es eine Studie, die Julia Gruhlich mit mehr als 20 Downshifter*innen durchgeführt hat, ummehr über die Gründe für den beruflichen Backflip zu erfahren. Erstens: bessere Vereinbarkeit von Job und Privatleben. Vor allem Mütter, seltener Väter, gehen in Teilzeit oder fangen was anderes an, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Zweitens: Sorge um sich oder stressbedingte Krankheiten zwingen einen dazu. Und drittens: Sinnsuche. Der aktuelle Job fühlt sich nicht richtig an. Vielleicht, weil er mit den eigenen Wertvorstellungen nicht übereinstimmt oder einfach nicht das perfekte Match ist.
„EIN UNFALL HAT MIR V ER DEU TLICHT, WA S MIR AM WICHTIGSTEN IST: MEINE FAMILIE UND ERHOLUNGSZEITEN FÜR MICH.“
IRMI DITZELL
IRMI DITZELL
Agile Coach und Trainerin
EX-JOB: Projektmanagerin in der Automobilbranche
ALTES KARRIEREMOTTO: Ich schaffe alles gleichzeitig.
NEUE ARBEITSMORAL: Eine gute Balance in mir und für mich finden.
HEUTE HABE ICH WENIGER … Fokus, ABER DAFÜR MEHR … Farbe und Bewegung.
MEIN TIPP FÜR ALLE, DIE SICH IM JOB ZERREISSEN: Die wichtigsten Dinge im Terminkalender einplanen: Freunde, Familie, Hobbys und alles, was einem Kraft und Energie schenkt!
„SEIT DER DRUCK WEG I ST, BIN ICH VIEL KREATIVER UND HABE SOGAR NOCH ENERGIE, UM PR IVATE PROJEKTE UMZUSETZEN.“
KATHI SCHIFFERDECKER
Bei Irmi Ditzell trafen alle drei Punkte zu – auch der letzte. Darum sattelte sie innerhalb ihrer Firma noch einmal um, machte eine Coaching-Ausbildung und gründete parallel dazu mit einer Freundin ein eigenes Unternehmen, um ihr Fachwissen als Coach auch im Privaten anwenden zu können. „Mit ‚JoynGrow‘ wollen wir gestressten Eltern helfen, ihr Leben selbstbestimmter zu gestalten. Dabei helfen bewährte Management- und Coachingmethoden aus der Wirtschaft“, sagt Irmi Ditzell. „Für mich ist das ein Herzensprojekt.“
ZUFRIEDENHEIT KOMMT VOR STATUS
Diese Selbstwirksamkeit ist etwas, das auch Miriam Abu Hamdan in ihrem alten Job bei der UN in New York vermisste. „Von außen betrachtet hatte ich einen absoluten Traumjob. Das Gehalt war gut und meine Position als Referentin für Humanitäre Angelegenheiten mit viel Prestige verbunden. Trotzdem fühlte ich mich von den hierarchischen Strukturen in dieser großen Organisati- on ausgebremst. Ich hatte so viele Ideen, kam aber nicht richtig zum Zug“, erzählt Miriam Abu Hamdan. Sie entscheidet sich, zu kündigen und bei einer Non-Profit-Organisation in Deutschland neu anzufangen. Ein Schritt, der in ihrem Umfeld nicht nur auf Verständnis traf. Denn sie verdient nicht so viel wie vorher, die neue Firma scheint weniger einflussreich. Dafür gibt es einen ganz entscheidenden Vorteil: Hier sieht sie jeden Tag das Ergebnis ihrer Arbeit. Denn die Wahl-Berlinerin hilft Migrant*innen und Geflüchteten dabei, im IT-Bereich in Deutschland Fuß zu fassen. Stört es sie nicht, was andere von ihrem vermeintlichen Rückschritt halten? „Nein, ich definiere meinen Wert nicht nur über die Arbeit“, sagt Miriam Abu Hamdan. „Ich bin auch mal neun Monate mit dem Rucksack um die Welt gereist – ohne einen Job zu haben. Ich will etwas erleben, Dinge bewegen. Das ist mir wichtiger als Statussymbole.“
Dass die allein nicht glücklich machen, haben inzwischen einige kapiert. Um wirklich zufrieden zu sein, brauchen wir neben einem Job, der uns erfüllt, auch Zeit für andere Dinge, die uns wichtig sind. Und wir sollten auch unserer Gesundheit viel mehr Wert beimessen. Blöd nur, dass die Anforderungen der modernen Arbeitswelt, wie Julia Gruhlich sie beschreibt, dem entgegenwirken. Oft auch noch auf Kosten der Produktivität.
MIT DOWNSHIFTING GEHT’S UP
Studien, darunter eine der Stanford-Universität, zeigen, dass viele Vollzeit-Mitarbeiter*innen zwar acht Stunden körperlich anwesend sind, sich aber nur zweieinhalb Stunden wirklich konzentriert einem Projekt widmen können. Ohne Ruhepause kann unser Gehirn nicht leistungsfähig bleiben, wie auch Mediengestalterin Kathi Schifferdecker aus eigener Erfahrung weiß. Sie schmiss ihre Führungsposition als Art-Direktorin in einer Werbeagentur hin und fing woanders eine Stufe drunter als Grafikerin an, um mehr Zeit für Hobbys, Freunde und zum Durchatmen zu haben. „Seit der Druck weg ist, bin ich viel kreativer und habe sogar noch Energie, um private Projekte umzusetzen“, sagt sie. Projekte wie das eigene Foto-Business, das sie unter dem Namen The Visuals gemeinsam mit ihrem Mann führt. Vom Downshifting hat nicht nur ihr Privatleben profitiert, ihr Job ist jetzt auch abwechslungsreicher und gibt ihr Kraft, statt sie zu nehmen.
KATHI SCHIFFERDECKER
Mediengestalterin und Fotografin
EX-JOB: Art-Direktorin in einer Werbeagentur
ALTES KARRIEREMOTTO: Höher, schneller, weiter.
NEUE ARBEITSMORAL: Den Job UND das Leben genießen – das ist möglich!
HEUTE HABE ICH WENIGER …Verantwortung,
ABER DAFÜR MEHR … Zeit.
MEIN TIPP FÜR ALLE, DIE SICH IM JOB ZERREISSEN: Fragen Sie sich, ob der Job es wirklich wert ist. Lautet die Antwort „Ja“ und ist ein Ende der stressigen Phase absehbar? Dann: Go for it! Ansonsten lassen Sie es bleiben!
Denn im Grunde ist es doch allein aus ökonomischer Sicht eigentlich verrückt, dass die Politik noch immer keine Arbeitsbedingungen geschaffen hat, die dafür sorgen, dass Arbeitnehmer*innen langfristig leistungsfähig bleiben. „Warum müssen Menschen ein strukturelles Problem auf der individuellen Ebene lösen?“, fragt die Arbeitssoziologin Julia Gruhlich. Und das auch noch auf eigene Kosten. Denn Fakt ist: Mit Downshifting gehen meist Gehaltseinbußen einher und es ist die Frage, ob man sich das überhaupt leisten kann.
WIR BRAUCHEN ZEIT
Unabhängig von Altersvorsorge und Co. stehen auf der Haben-Seite des Downshiftings jedoch mehr Lebensfreude und Leichtigkeit, wie die Beispiele dieser drei Business-Frauen zeigen. „Ein Karriererückschritt kann auch die Chance sein, ein Leben zu führen, in dem man vielleicht auf ein paar materielle Dinge verzichtet, das aber reicher an anderen Dingen ist“, sagt Grafikerin Kathi Schifferdecker. Denn brauchen wir wirklich das schickere Auto, das wir vor lauter Stress am Ende zu Schrott fahren? Oder den Job, für den uns alle bewundern, der uns aber nicht erfüllt? Nein, findet auch Irmi Ditzell. „Was wir brauchen, ist Zeit. Zeit, um darüber nachdenken zu können, was wir eigentlich brauchen.“
MIRIAM ABU HAMDAN
Program Manager & Product Owner
EX-JOB: Referentin für Humanitäre Angelegenheiten bei der UN
ALTES KARRIEREMOTTO: Top Lifestyle, top Institution, top Selbstausbeutung.
NEUE ARBEITSMORAL: Gestalten, Raum für Innovation, Menschen bewegen.
HEUTE HABE ICH WENIGER … Geld und Reputation,
ABER DAFÜR MEHR … Gestaltungsfreiraum und die Möglichkeit, die Wirkung meiner Arbeit zu sehen.
MEIN TIPP FÜR ALLE, DIE SICH IM JOB ZERREISSEN: Wer im Job unhappy ist, kann das als Zeichen sehen, sich mal umzuorientieren. Das Gefühl, Mut gehabt zu haben, und die gewonnene Freiheit, die mit der Kündigung eines ungeliebten Jobs einhergehen, sind unbezahlbar.
„MEINEN WERT DEFINIERE ICH NICHT ÜBER DIE ARBEIT.“
MIRIAM ABU HAMDAN