So rein und unschuldig, wie sie wirken, sind die süßen Kristalle nicht. Zu viel Zucker kann krank machen
Jeder Deutsche verzehrt durchschnittlich Gramm ZUCKER 93 am Tag
Jeder Schwede verzehrt durchschnittlich Gramm ZUCKER 92 am Tag
Erst eins, dann zwei, und schon ist die Tafel Schokolade weg
Jeder Schweizer verzehrt durchschnittlich Gramm 105 ZUCKER am Tag
Ein Amerikaner verzehrt durchschnittlich Gramm 85 ZUCKER am Tag
Zucker ist ein großer Verführer! Die weißen Kristalle versüßen uns nicht nur das Leben. Sie sind auch Allzweckwaffe gegen Arbeitsfrust und Alltagsstress sowie jede nur erdenkliche Art von Kummer. Schokolinsen, Nougatpralinen und Karamellbonbons machen glücklich, wenn die Welt rundläuft, und trösten, wenn das mal nicht ganz so ist. Kann die süße Begierde denn wirklich Sünde sein?
Süßes betört die Menschen rund um den Globus. Wir lassen uns den weißen Zucker auf der Zunge zergehen, obwohl eine Flut wissenschaftlicher Studien ihn längst als Krankmacher überführt hat. So „snacken“ US-Amerikaner täglich durchschnittlich 85 Gramm Zucker, „schlecken“ Österreicher 91 Gramm, „schnousen“ Schweizer 105 Gramm. Auch hoch im Norden ist die Liebe zum Zucker ausgeprägt: Die Schweden „småäta“ 92 Gramm pro Tag und lassen sich selbst ihren Hering gezuckert schmecken. Und wir? Jeder Deutsche versüßt sich den Tag im Durchschnitt mit 93 Gramm der vermeintlichen Köstlichkeit. Das sind umgerechnet etwa 30 Stück Würfelzucker – rund 15 zu viel. Denn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt täglich höchstens 50 Gramm!
Die Dosis macht das Gift
Warum aber lieben wir Menschen Süßes so sehr? Warum geht immer noch ein Teilchen, obwohl unser Verstand längst Stopp schreit? Weshalb springt das erlösende „Ich bin dann mal satt“-Gefühl bei Sahneschnitten und Nussecken erst viel zu spät an? Dr. Brigitte Bäuerlein und Irmingard Dexheimer kennen die Antwort. „Die Lust auf Süßes wird uns schon in die Wiege gelegt“, schreiben die beiden in ihrem Buch „Der Zucker-Kompass“ (siehe Buchtipp Seite 8). Das Erste, was Babys schmecken, ist Fruchtwasser, und das ist ungefähr so süß wie eine Tasse Tee mit einem Löffel Zucker. Und Muttermilch enthält fast doppelt so viel Milchzucker wie Kuhmilch.
Einmal süß, immer süß – die Gewohnheit macht’s. Und wir greifen zu, als gäbe es kein Morgen. „Softdrinks, Süßigkeiten, süße Snacks – zu viel davon kollidiert mit unserer evolutionä ren Grundausstattung“, heißt es im „Zucker-Kompass“. So mischt der Zucker bei nahezu allen Zivilisationskrankheiten überaus kräftig mit: Karies, Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck, Fettleber, Nierenschäden und Herz- Kreislauf-Erkrankungen gehen direkt oder indirekt auf das Konto der süßen Last.
Softdrinks sind Zuckerbomben
US-Wissenschaftler sehen in der Überaktivierung des Fruktose-Stoffwechsels durch Zucker genau den Dominostein, der eine Alzheimer-Erkrankung auslösen könnte. Eine andere US-amerikanische Studie, die California Teachers Study mit mehr als 130.000 Frauen, hat ergeben, dass schon der tägliche Verzehr von nur einem Glas eines zuckerhaltigen Getränks das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung um fast 20 Prozent erhöht. Und britische Forscher des University College London konnten nachweisen, dass ein zu hoher Zuckerkonsum bei Männern sogar Depressionen auslösen kann. „Ein Drittel unserer Zuckeraufnahme resultiert allein aus dem Konsum gesüßter Getränke“, warnen die Autorinnen Bäuerlein und Dexheimer. Uns sei oft gar nicht bewusst, wie viel Zucker wir nebenbei nur durch süße Durstlöscher zu uns nehmen. Nach einer Erhebung des Max-Rubner-Instituts enthalten Erfrischungsgetränke bis zu 15 Gramm Zucker pro 100 Milliliter und tragen massiv zur Körperfülle und den daraus resultierenden Krankheiten bei. In Deutschland waren laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) 2020 fast 60 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen zwischen 18 und 65 Jahren übergewichtig. Ungefähr 560.000 Menschen erkranken Jahr für Jahr neu an Diabetes, der chronischen Störung unseres Zuckerstoffwechsels.
EIN DRITTEL unserer Zuckeraufnahme resultiert allein aus dem Konsum gesüßter Getränke.“
BRIGITTE BÄUERLEIN Buchautorin und Ökotrophologin
BUCHTIPP Brigitte Bäuerlein, Irmingard Dexheimer Der Zucker- Kompass Trias Verlag 248 Seiten 19,99 Euro
Energielieferant? Ein Mythos!
Dabei liefert Zucker keinen Mehrwert für unser Leben, er macht nicht einmal gute Laune. Diesen Mythos konnte die Berliner Humboldt-Universität mit 1259 Studienteilnehmern entzaubern. Danach hat Zucker, egal in welcher Menge, keinen Effekt auf die Stimmung, macht eher schlapp und müde – und lässt uns leider auch keine Flügel wachsen: „Das Gehirn braucht keinen Extra-Energieboost, keinen Cupcake mit Schoko-Topping und keinen Latte macchiato mit Karamellsirup“, klärt Dr. Bäuerlein auf: „Unsere grauen Zellen bedienen sich ständig am Zuckerpool des Körpers und haben immer ausreichend Glukose als Brennstoff.“ Schon mit einer ganz normalen Mahlzeit nehmen wir in der Regel unbemerkt viel zu viel Zucker zu uns. Denn der versteckt sich in der Tiefkühlpizza und der Tütensuppe, in der Gewürzgurke und im Salatdressing und mischt sogar im morgendlichen Müsli kräftig mit. „Beinahe drei Viertel aller abgepackten Nahrungsmittel im Supermarkt enthalten Zuckerzusätze“, hat Bäuerlein recherchiert. Getarnt hinter mehr als 70 verschiedenen Begriffen: „Honig und Sirup sind bekannt. Aber wer weiß schon, was Dextrose, Saccharose oder Maltose sind?“ Mit diesen Angaben auf den Zutatenlisten trickst die Nahrungsmittelindustrie die Verbraucher aus und verzuckert die moderne Ernährung.
Was ist was?
Natürliche Alternativen
Sind Ahornsirup, Honig oder Xylit die bessere Wahl? Unsere Expertin hat die angesagten Zuckeralternativen einem Gesundheitscheck unterzogen
AGAVEN-DICKSAFT Geschmacksneutral bis intensiv malzig-karamellig. 125 – 150 g Haushaltszucker lassen sich durch 100 g Dicksaft austauschen. 300 kcal/100 g
AHORN-SIRUP Geringere Süßkraft. 100 g Haushaltszucker entsprechen 130 – 140 g Ahornsirup. Nicht nachhaltig, weil er um die ganze Welt transportiert wird. 260 kcal/100 g
HONIG Süßer als Zucker. 80 g Honig ersetzen 100 g Zucker. Honig ist ein reines Naturprodukt, dem nichts hinzugefügt werden darf. Das macht ihn besonders. 300 kcal/100 g
BIRKEN-ZUCKER Heißt auch Xylit. Gleiche Süßkraft wie Zucker. 10- bis 20-mal teurer als Haushaltszucker. Ist allerdings nicht so natürlich, wie der Name vermuten lässt. 240 kcal/100 g
MELASSE Schmeckt leicht herb bis lakritzartig. Süßkraft etwa 60 Prozent von Zucker. Enthält Mineralstoffe, insbesondere Eisen, besteht aber hauptsächlich aus Saccharose oder Raffinose. 290 kcal/100 g
YACON-SIRUP Süßlicher, honigähnlicher Geschmack. Süßt nur halb so viel wie Haushaltszucker. Gesunder Newcomer, weil er den Blutzuckerspiegel nicht so stark ansteigen lässt. 306 kcal/100 g
ZUCKERRÜBEN-SIRUP Weniger Süßkraft als Zucker. Enthält Eisen, Magnesium, Kalzium, Ballaststoffe. Traditionelle Zuckeralternative aus regionalem Anbau. 300 kcal/100 g
STEVIA Nicht die natürlichen Teile der Pflanze werden zur Zuckerproduktion verwendet, sondern kleinste Bestandteile, die mit chemischen Verfahren gelöst werden. 371 kcal/100 g
Bevor wir uns auf Süßes stürzen, schnell ein Glas Wasser trinken. Das lenkt ab
Der Zuckerfalle entkommen
In einer Fertigportion Currywurst fanden Wissenschaftler 26 Gramm Zucker, aber nur ein Teil war ausdrücklich als Zucker deklariert. Und wer hätte schon 12 Gramm Zucker in 100 Gramm Krautsalat vermutet? Oder 23 Gramm Zucker in derselben Menge Ketchup? Warum die Industrie den Lebensmitteln Zucker zusetzt? Dr. Brigitte Bäuerlein kennt die Gründe: „Zucker schmeckt, ist billig und macht haltbar.“ Zucker weg von jetzt auf gleich – das lässt sich schwer realisieren“, sagt die Expertin. Stattdessen empfiehlt sie eine sanfte Umstellung der Ernährungsgewohnheiten.
Und die lässt sich so realisieren: Dokumentieren Sie mehrere Wochen lang Ihr Snackverhalten. So entlarven Sie kleine und große Snacksünden. Machen Sie den Zuckercheck im Küchenschrank, nehmen Sie die Zutatenlisten aller Produkte unter die Lupe. Der neue NutriScore oder die Ampelcheckkarte der Verbraucherzentrale hilft bei der Einordnung. Verwenden Sie frische Früchte sowie frisches Gemüse, und legen Sie als Reserve Tiefkühlware ohne Zuckerzusatz in den Gefrierschrank.
Selbst zu kochen und zu backen erleichtert das zuckerarme Leben kolossal. Senken Sie den Einsatz von Zucker durch Gewürze. Zimt, Vanille, Süßholzwurzel, Chili, Kardamom sowie Muskat bringen etwas Süße oder auch Schärfe mit. Gegen echte Heißhungerattacken empfiehlt Expertin Dr. Bäuerlein: Ein Glas Wasser trinken oder sich einen Gewürztee zubereiten, dazu ein Stück Obst essen oder ein paar Mandeln oder Cashewnüsse knabbern. Und: Ganz stark sein!
SUSAN JUNGHANS-KNOLL
Verwirrung: Wer wissen will, wie viel Zucker ein Produkt enthält, muss die Zutatenliste akribisch studieren
Was ist was?
Mogelpackung: Das steckt wirklich drin
„Ohne Zuckerzusatz“ heißt nicht ungesüßt, und „Zuckerfrei“ nicht ohne Zucker. Die Produktangaben sind selbst für versierte Etikettenleser verwirrend
ZUCKERARM Das darf nur angegeben werden, wenn nicht mehr als 5 Gramm Zucker pro 100 Gramm Lebensmittel darin stecken. Flüssige Lebensmittel dürfen nicht mehr als 2,5 Gramm Zucker pro 100 Milliliter enthalten.
ZUCKERFREI Das stimmt nicht immer. Mengen unter 0,5 Gramm Zucker brauchen nicht angegeben zu werden.
OHNE ZUCKERZUSATZ Das heißt: Es kann trotzdem eine ganze Menge Süßes enthalten sein! Zwar nicht in Form von Einfach- oder Zweifachzucker und anderen süßenden Lebensmitteln wie Honig oder Fruchtsirup. Dafür sind aber Süßungsmittel erlaubt. Be inhalten Zutaten von Natur aus Zucker, sollte darauf hingewiesen werden (muss aber nicht).
OHNE ZUSATZ VON SÜSSUNGSMIT- TELN Übersetzt heißt diese Formulierung: Hier können Berge von Industriezucker oder süßende Lebensmittel das Produkt aufgepeppt haben. Es enthält allerdings weder chemisch her gestellte Süßstoffe noch Zuckeraustauschstoffe (Oberbegriff Süßungsmittel).
Selber machen lautet die Devise, wenn wir unseren Zuckerkonsum im Blick behalten wollen