WIE HÄUFIG DARF MAN ALS KOLUMNISTIN INNERHALB EINES JAHRES DIESE FRAGE STELLEN: Bin nur ich es oder ist das Leben gerade bleischwer? Mann, es ist ja erst Mai! Das Vertrackte an meinem Job ist, dass ich keine Pressesprecherin habe, die ich vorschicken kann, wenn ich einen Kloß im Hals habe. Vermutlich hätte selbst die keine passenden Worte mehr. Niemand hat sie zurzeit. Egal, wen ich spreche, Schulterzucken. Eine Freundin meinte, ich hätte zu viel Zeit zum Kopfzerbrechen, das sei nicht gut, ich solle mir einen neuen Sport oder Beruf suchen, das würde mich ablenken. Wovon noch mal genau? Eine andere Freundin sagte, bei ihr in Frankreich, da würde keiner über Krieg und Krise reden, das sei typisch deutsch, sich so viele Sorgen zu machen wie ich. German Angst und so. Außerdem wisse ich doch, dass sich Panik in der Presse auch immer besser verkauft als Mordsgaudi. Helmut Schmidt wiederum sagte mal, dass sich in Krisen der Charakter eines Menschen zeigt. Meiner kommt gerade an seine Grenzen. Ich handhabe das Leben nicht mehr so schubidu. Mag sein, dass das nun mein neuer Charakter ist, vielleicht nur eine Phase. Eine, an die ich nur noch eine letzte Frage habe: Wie lange wird sie verdammt noch mal dauern? Ich könnte mir und ihr eine Frist geben, ein halbes Jahr oder, noch besser, ein ganzes. Sagen wir, ich gebe uns einfach Zeit bis zum Mai 2023, und bis dahin lasse ich alles so, wie es ist. Hadere nicht mehr mit diesem vermaledeiten Ist-Zustand der Welt, nehme die Schwere leichter.
Ehrlichkeit ist ein heikler Pfad, aber was die Alternative? Sie könnte sein, mir eine niedliche Fassade zuzulegen, hinter der ich mich verstecken und nach außen den Anschein erwecken könnte, es ginge mir glänzend. Ich könnte von meinem gescheiterten Zahnbleaching erzählen. Meine Zahnärztin meinte, das könne sie eventuell eine Nuance auf hellen. Das Set kostete 350 Euro. Ich hatte Hoffnung, dass auch mein Gemüt sich auf hellen würde. Die Zahnarzthelferin sagte, zuerst würde ein Abdruck gemacht werden für die Schiene. Ich fragte noch, wie lange die lilafarbene Masse denn in meinem Mund bleiben müsse, aber da war es schon zu spät. Ich bekam Panik, weil ich sicher war, nun keine Luft zu bekommen, und zappelte mit der silbernen Zitronenpresse im Kiefer rum. Die Zahnarzthelferin war mitfühlend, pulte die halb getrocknete Knete geduldig aus meinem Mund und hielt mir beim zweiten Versuch die Hand.
MEINE WOCHE
WAS MICH GLÜCKLICH MACHT:
• Nichts lässt mich effektiver die Realität vergessen als eine Folge „Selling Sunset“. So schön behämmert!
WAS MICH NERVT:
• Das Zahnaufhellungs-Set macht die Zähne zwar weißer, aber leider auch so schmerzempfindlich, dass mir das Lachen noch mehr vergangen ist
Wenig später erhielt ich das Set, sechs Stunden täglich solle man die Plastikschiene mit dem Wasserstoffperoxid-Gel tragen. Ich berechnete, dass ich die Schiene bereits zur Teatime einsetzen muss, wenn ich nicht bis Mitternacht mit zu viel Spucke im Mund in der Bude rumtigern wollte. Drei Tage hielt ich es durch, ich sah 18 Stunden „Selling Sunset“, mein Gemüt veränderte kaum den Ton. Meine Zähne wurden weiß und so schmerzempfindlich, dass ich bei jedem Schluck Wasser hätte heulen können. Nach dem Bleaching solle man auf keinen Fall färbende Sachen essen. Am vierten Tag schlug ich jede Warnung in den Wind und gulpte einen halben Liter „cicé Immune Drops“ runter. Auf die schwöre ich, wann immer mir die Energie ausgeht, Hauptwirkstoff ist Curcumin. Nun habe ich maisgelbe Zähne wie ein Hamster, aber körperlich und geistig bin ich voll auf der Höhe. Ach, wurscht, in Krisen muss man Charakter, nicht Zähne zeigen!