... Geschichte.
Dario Fontanella (67) sitzt am Mannheimer Hauptbahnhof an der Espressobar seiner Eisfabrik. Diesen legendären Ort gibt es nur wegen seinem Vater. Dario nennt ihn „meinen Gott“. 380 Eissorten stellt Fontanella hier her, zusammen mit fünf Angestellten. Ohne Emulgatoren oder andere Chemie. Die Vanille kauft er auf Tahiti, ein Kilogramm für 800 Euro. Sein Eis liefert Fontanella in ganz Deutschland an Gourmetrestaurants, Kulturinstitutionen und große Firmen. „Morgen schaut der Chef des Hotel Adlon bei mir vorbei“, sagt er und serviert dem Reporter drei verschiedene Sorten Eis zum Probieren. Und das Spaghetti-Eis? „Piano, piano“, sagt Fontanella. Das kommt später.
Die Geschichte italienischer Eissalons in Deutschland ist mehr als 200 Jahre alt. Sie beginnt im norditalienischen Val di Zoldo. Von dort kommen auch die Fontanellas. Durch die Industrialisierung muss vor 200 Jahren mehr als jeder Zweite von dort emigrieren, zum Beispiel nach Wien. Manche verdienen ihr Geld dort als Straßenhändler – oft mit dem Verkauf von kandierten Früchten oder „Gefrorenem“.
Aber die Wiener Zuckerbäcker protestieren so sehr gegen die Italiener, dass auch diese Räume mieten müssen. Weil das Hochparterre besonders günstig ist, verkaufen sie ihr Eis aus den Fenstern. Für die Kunden bauen sie kleine Tribünen aus Holz. Die Eisdiele ist geboren.
Bald gibt es Eisdielen in ganz Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg gehen viele Italiener weiter in Richtung Norden – auch in immer mehr deutsche Städte. Darios Vater ist erst 21 Jahre alt, als er im Jahr 1931 seinen ersten Eisladen in Hannover aufmacht. 1933 möchte er weiter, nach Mannheim.
1933? Das Jahr, in dem Hitler Regierungschef wird? „Kein Problem“, meint Dario Fontanella heute und führt die Nase des Reporters in Richtung Hibiskus und Lavendel. „Hitler und Mussolini haben sich damals noch gut verstanden.“ Erst als die Diktatoren Streit bekommen, protestiert die Hitlerjugend auch vor Marios Café. Im Krieg flieht Mario mit seiner Frau Renate nach Italien. Die beiden bleiben am Leben. 1946 sind die Fontanellas zurück. Sie verkaufen wieder Eis – in den Ruinen.
Dario hilft in den Schulferien beim Eisverkauf in Deutschland. Die anderen Monate wohnt er aber bei den Großeltern in Italien. „In den Fünfzigern war noch nicht klar, wohin sich Europa entwickelt“, erzählt der Eismacher und reicht jetzt Sesam und Zitrone. Seine Eltern haben es gut gefunden, „Kinder in beiden Ländern zu haben“.
Aber was ist jetzt mit dem Spaghetti-Eis? „Das erzähle ich Ihnen jetzt.“
Es passiert in den Osterferien, am 6. April 1969. Da stellt der junge Dario seinem Vater im Keller der Eisdiele seine neue Idee vor. Gekommen ist sie ihm auf einer Skitour in Cortina d’Ampezzo. Dort hat ihm in einer Pasticceria ein Dessert besonders geschmeckt: Esskastanien, durch eine Kartoffelpresse gedrückt!
Diese Idee entwickelt Dario mit seinem Vater weiter. Er presst Portionen Vanilleeis durch eine Spätzlepresse. Darauf serviert Fontanella eine Soße aus Erdbeeren. Und als Parmesan reibt er weiße Schokoladen-Ostereier. Das Spaghetti-Eis ist geboren. Nur die deutschen Kinder weinen, denn das Eis-Gericht kann man nicht schlecken, nur löffeln.
25 Millionen Portionen essen die Deutschen im Jahr, kein Eisbecher ist populärer.
Fontanella glaubt an seine Idee. Deshalb geht er nur wenige Stunden später mit seinem Vater zum Anwalt. Er will sein Produkt schützen. Aber der Anwalt sagt: „Junge, das kostet dich 200 Mark. Und dann nennen es die Leute Makkaroni-Eis und machen es trotzdem.“ Also nicht – wegen 200 Mark (heute circa 100 Euro). „Großer Fehler!“, sagt Fontanella heute. Denn auch der Verband italienischer Eisverkäufer in Deutschland sagt jetzt: „Kein anderer Eisbecher garantiert eine so sichere Einnahme.“
Weil die Deutschen aber Eis mit Schlagsahne lieben, hat Fontanella 1969 noch ein Problem: „Spaghetti-Eis mit Sahne drauf, das machte mir doch die ganze Optik kaputt!“, ruft er beim Espresso. „Also habe ich die Eis-Spaghetti einfach auf die Schlagsahne draufgedrückt.“ Und so wird Spaghetti-Eis bis heute verkauft, circa 25 Millionen Portionen pro Jahr. Sich integrieren, aber nie seine Identität aufgeben – so hat es Fontanella immer gemacht. Einen deutschen Pass hat er immer noch nicht. Eine deutsche Frau hat er aber.
Spaghetti-Eis gibt es heute nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, Frankreich, Polen, den USA – und, darauf ist Fontanella besonders stolz, in Teilen Italiens.
Seit 1933 verkaufen die Fontanellas in Mannheim Eis, wie hier in den 70er-Jahren in ihrem Eissalon.
Eine Übung zu diesem Text finden Sie auf Seite 43.
Fotos: Eis Fontanella Eismanufaktur Mannheim; picture alliance/Uwe Anspach/dpa; Quelle: Dies ist eine einfachere Version eines Texts aus der Süddeutschen Zeitung.