... trifft man bei dem Tübinger auf einen Computer und drei Bildschirme in einem hellen Raum über den Dächern der Stadt, der eher an ein Architekturbüro erinnert. „Ich brauche äußere Ordnung und klare alltägliche Strukturen, um die in mir herumwirbelnde Kreativität auszubalancieren“ sagt Martin Burchard, der gerade an einem großen Schreibtisch sitzt und an seinem neuesten Projekt arbeitet. Dabei lässt er - für einen Laien wie von Geisterhand - das Gebäude, das man auf Leonardo da Vincis berühmtem Gemälde des Abendmahls sieht, im Hier und Jetzt entstehen und macht es begehbar - zumindest virtuell. Mit einer speziellen Brille für die virtuelle Realität, einer sogenannten VR-Brille, wird die computergenerierte Wirklichkeit in Bild und Ton übertragen. Für Burchard ist diese Art von Kunst wie eine Befreiung. In der virtuellen Welt sei alles möglich. Hier gebe es keine Probleme mit der Statik oder mit dem Material - es sei tatsächlich alles machbar.
„Ich habe ein Programm zum Konstruieren und eines zum Rendern“, erklärt er. Beim sogenannten Rendern bekommen die Oberflächen ihre Texturen, so kann das Video endgültig fertiggestellt werden. „Damit möchte ich einen Brückenschlag in die heutige Zeit ermöglichen“, erklärt der 63-Jährige, der mit der digitalen Kunst noch einmal ein ganz neues Kapitel in seinem Leben aufschlägt.
Die aus Aluminium geschaffene begehbare Skulptur des „engen und des weiten Horizonts” steht auf dem Lebenshorizontweg in Mundingen.
J eder Mensch mit Internetzugang kann sein 360-Grad-Kunstvideo betrachten - und zwar auf dem Videokanal youtube. Dazu tippt man „last supper reloaded“ (deutsch: das letzte Abendmahl neu aufgenommen) ein - und schon geht’s los. Geld kann Burchard damit allerdings keines verdienen. „Noch nicht“, unterstreicht der gelernte Schreiner und Diplom-Pädagoge, der voller Ideen steckt und Botschaften mit seiner Kunst vermitteln möchte. Für Burchard steht dabei stets an erster Stelle, mit Menschen aller Weltanschauungen und Religionen für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. „Am Anfang steht eine Aussage, die ich visuell darstellen will. Dann suche ich nach kreativen Lösungen, um den beabsichtigten Sinnhorizont möglichst effektiv und allgemeinverständlich zu transportieren. Meine Arbeiten verstehe ich als Visualisierungen von Lebensweisheiten, Spiritualität und christlichem Glauben“, fasst er seine Gedanken zusammen.
Dabei hatte Burchard bis zu seinem 36. Lebensjahr mit Kunst und ebenso wenig mit Christentum etwas am Hut. Als Mitglied einer marxistischen Bewegung war für ihn Glauben „Opium fürs Volk“. Erst als er nach dem Tod seiner Mutter in eine schwere Krise fiel, beschäftigte er sich mehrere Jahre intensiv mit dem Buddhismus und wurde sich erst anschließend des christlichen Glaubens bewusst. Halt und Inspiration fand er in der Gemeinde der Tübinger Jakobuskirche. Er begann, sakrale Kunst zu schaffen und besuchte die Akademie für Gestaltung in Ulm. Der „Kreuzweg Teil 2“ war eines seiner ersten großen raumgreifenden Kunstwerke.
Seit 2002 arbeitet Martin Burchard als freischaffender Künstler. Seitdem hat er die unterschiedlichsten Werke gestaltet, mit denen er stets eines bewirken möchte: Den Be- trachter zum Nachdenken anregen. Das gelingt ihm unter anderem auch bei den diversen Besinnungswegen, deren künstlerische Leitung ihm oblag, wie beispielsweise auf dem Lebenshorizontweg in Mundingen. Hier steht auch eines seiner Lieblingsobjekte - die aus Aluminium geschaffene begehbare Skulptur des engen und des weiten Horizonts. „Unser Lebensweg ist auch meistens ein Wechsel zwischen engem und weitem Horizont. Je nachdem welche Bedeutung wir den Dingen des Alltags einräumen“, so der Künstler.
„Meine Arbeiten verstehe ich als Visualisierungen von Lebensweisheiten, Spiritualität und christlichem Glauben.”
Besonders am Herzen liegt ihm außerdem das von ihm entworfene sogenannte Lichtkreuz - ein 20 Zentimeter langes aus Multiplex hergestelltes Kreuz mit orangefarbenem Plexiglas. Mit diesem Kreuz ist ihm genau das gelungen, was ihm besonders am Herzen liegt: Er möchte die befreiende Kraft der christlichen Spiritualität mit einer positiven Bildsprache zeigen und das „Kreuz aus seiner dunklen Ecke und der Verbindung zum Tod holen“. „Die Kirchen müssen begreifen, dass sie eine positive Bildsprache des Glaubens brauchen, um die Menschen zu erreichen“, ist er überzeugt, schaltet seinen Computer aus und macht sich fertig für seine Mittagsmeditation in der Tübinger Jakobuskirche. Das ist die Mittelachse seines Alltags. Meistens fällt es ihm leicht, die Arbeit für einen Moment niederzulegen und sich auf sein „Kloster im Alltag“, wie er es nennt, einzulassen, aber ein innerer Kampf ist es trotzdem. „Alle reden vom Loslassen, üben aber meistens eher das Festhalten“, meint Burchard.