... den Bereich Psychosomatik in der Zahnheilkunde am Universitätsklinikum Münster. Zu ihr kommen Menschen mit dem Verdacht, es könnte etwas anderes hinter ihren Beschwerden stecken als ein zahnmedizinisches Problem: seelische Belastungen wie Stress oder Angst, unverarbeitete Konf likte oder traumatische Erlebnisse. „Die Psyche hängt mit den Zähnen zusammen, ähnlich wie mit anderen Organen, für die das allgemein akzeptiert ist. Doch für die Zähne ist das wenig bekannt“, erklärt Anne Wolowski. „Meine Patientinnen und Patienten sind oft irritiert, wenn ich sie frage, wie es ihnen geht oder wie es bei ihnen zu Hause läuft.“
Wir alle pressen bei Stress unbewusst die Zähne zusammen. Das könnte sogar nützlich sein
Die Mundhöhle ist eine ungeheuer sensible Körperregion. Im sensorischen und motorischen Kortex, also den beiden Gehirnregionen, in denen der Körper wie auf einer Landkarte mit verzerrten Größenverhältnissen abgebildet ist, sind Zunge und Lippen überproportional groß repräsentiert. Die Bewegungen und die Sinnesempfindungen dieser Körperregion nehmen also großen Raum in unserem Bewusstsein ein. Die kleinste Irritation auf der Schleimhaut kann uns stundenlang ablenken. Schmerzende Zähne und entzündetes Zahnf leisch verderben uns den Genuss beim Essen oder Trinken, manchmal sogar beim Küssen.
Schon im Säuglingsalter spielt der Mund eine bedeutende Rolle: Babys möchten ihr Saugbedürfnis stillen, erkunden mit Lippen und Zunge die Umwelt. Über die Muskeln rund um den Mund drücken wir Gefühle aus: Freude, Trauer, Ekel, Wut. „Zudem ist die Mundregion hoch symbolhaft. Gesunde Zähne und volle Lippen stehen für Jugendlichkeit und Attraktivität. Für Stärke und Potenz verwenden wir den Ausdruck ,Der hat Biss‘“, sagt Maria Lenk, Zahnärztin und Humanmedizinerin, die am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden zu Psychosomatik und Zahnheilkunde forscht.
Die Sprache drückt aus, welche Verbindung wir zwischen den Zähnen und Charaktereigenschaften oder Emotionen zu sehen glauben: Die Mutige zeigt den Gegnern die Zähne, der Willensstarke beißt sich durch, die Gekränkte knirscht mit den Zähnen. Wir „gehen auf dem Zahnf leisch“, „kauen auf einem Problem herum“ oder „beißen beim anderen auf Granit“. „Viele Ausdrücke, die sprichwörtlich gebraucht werden, deuten auf Erkrankungsbilder im Mund- und Kieferbereich hin“, sagt Maria Lenk.
Besonders offensichtlich ist die Verbindung zwischen Psyche und Kiefer beim Zähneknirschen, Bruxismus im Fachjargon genannt. Emotionaler Stress kann sich in einer Anspannung der Kiefermuskeln zeigen. Der Zusammenhang ist vor allem für das Knirschen im Wachzustand belegt. Rund 31 Prozent der Erwachsenen pressen tagsüber die Kauf lächen aufeinander, typischerweise junge Menschen zwischen 25 und 45 Jahren. Rund 12 Prozent knirschen nachts. Die Folge können chronische Kiefer-oder Gesichtsschmerzen oder eine Kieferstarre sein. Langfristig reiben sich die Zähne ab. „Wir alle beißen bei Stress unbewusst die Zähne zusammen“, erläutert Anne Wolowski. Das könnte sogar nützlich sein: Eine Studie ergab, dass das Kauen auf einem Paraffinwürfel die Menge des Stresshormons Kortisol im Blut reduziert. „Aber Menschen mit Bruxismus spannen die Kiefermuskeln auch in Erholungsphasen an. Sie können sich nicht mehr entspannen“, sagt Wolowski.
Außerdem – auch dies kann manche Zahnschäden erklären – verschlechtert sich bei Stress und psychischer Belastung die Mundhygiene. Medizinstudierende putzen die Zähne in ihrer Examenszeit weniger gründlich, wie eine Untersuchung zeigte. Eine Analyse von 26 Studien ergab im Jahr 2016, dass auch Menschen mit einer Depression oder starken Ängsten ein erhöhtes Risiko für Zahnerkrankungen haben, insbesondere für Zahnverlust. Neben einer vernachlässigten Mundhygiene könnte dabei Mundtrockenheit, eine Nebenwirkung mancher Antidepressiva, eine Rolle spielen.
Wenn es im Mund brennt
Anspannung und Niedergeschlagenheit führen also oft zu Verhaltensweisen, die den Zähnen schaden. Doch in der Psychosomatik vermutet man, dass Psyche und Kiefer nicht nur indirekt über das Verhalten, sondern auch auf einem direkten Weg miteinander in Verbindung stehen. Vor allem Schmerzsyndrome könnten auf seelische Belastungen zurückgehen.
„Eine wichtige Rolle spielen Lebensumstellungen“, sagt Anne Wolowski. Wie bei der eingangs erwähnten Frau, deren Zahnersatzbehandlung in eine Phase der Trauer fiel. Sie habe eine „somatoforme Prothesenunverträglichkeit“ entwickelt, so Wolowskis Diagnose. Symptome könnten neben Schmerzen und Brennen im Mund Probleme beim Schlucken und Schmecken sein. Betroffen seien vor allem Frauen im Alter über 55. Oft forderten sie die Anfertigung einer neuen Prothese, manchmal mehrfach hintereinander, suchten immer neue Zahnärztinnen und Zahnärzte auf, sagt Wolowski. Sie spricht von einem „therapeutischen Amoklauf “, der die Betreffenden zusätzlich belaste und viel Geld kosten könne. Im Schnitt vergingen dreieinhalb Jahre, bis der Einf luss psychischer Faktoren erkannt werde.
Der Übergang zu einer Prothese kann Maria Lenk zufolge von dem Gefühl begleitet werden, weniger durchsetzungsstark oder attraktiv zu sein. „Innerseelische Konf likte und Widerstände gegen den Zahnersatz können das Fremdkörpergefühl verstärken und orale Abwehrreaktionen hervorrufen, wie einen Würgereiz oder Mundschleimhautbrennen“, sagt die Zahnmedizinerin.
Mundschleimhautbrennen kann auch ohne Prothese auftreten. Betroffene empfinden einen unerklärlichen Schmerz, häufig auf der Zunge. Wie es zu den Missempfindungen des Nervensystems kommt, gibt Forschenden Rätsel auf. Dass neben körperlichen Ursachen wie einem Hormonumschwung auch psychische Symptome mit der Erkrankung einhergehen können, bestätigte 2017 eine Auswertung von 15 kontrollierten Studien. Ein finnisches Forschungsteam führte über zwei bis vier Stunden strukturierte diagnostische Interviews mit 63 Personen, die unter Mundschleimhautbrennen oder atypischem Gesichtsschmerz – einem weiteren Leiden ohne klare Ursache – litten. 33 von ihnen waren im Laufe ihres Lebens bereits seelisch erkrankt, besonders häufig an Depressionen oder Angststörungen. Fast 80 Prozent der psychischen Symptome waren bereits vor Beginn der Mund- oder Gesichtsschmerzen aufgetreten. Oft wurden sie chronisch. Die Autoren vermuten, dass eine geminderte Aktivität des Botenstoffes Dopamin im Gehirn sowohl die seelischen Erkrankungen als auch die Schmerzen erklären könnte.
Manchmal brechen durch eine zahnärztliche Behandlung seelische Wunden wieder auf, sagt Lenk. Wie bei jener Frau mittleren Alters, die nach einer Operation am Kiefer einen starken Würgereiz entwickelte, sobald etwas in ihren Mund gelangte. Selbst das Zähneputzen wurde zur Qual. Im Gespräch mit Maria Lenk erinnerte sich die Patientin, in ihrer Kindheit und Jugend einen ähnlichen Würgereiz empfunden zu haben. Erst mit ihrem Auszug aus dem Elternhaus hatte er nachgelassen. Schließlich berichtete die Frau, dass sie jahrelang im engsten Familienkreis sexuell missbraucht worden sei, auch oral. „Auf die Grenzverletzungen durch den Missbrauch hatte sie mit Ekelabwehr reagiert“, so die Erklärung von Maria Lenk. „Die Operation im Mundbereich und der Kontrollverlust in der benötigten Narkose hatten den Würgereiz erneut ausgelöst.“
Die Psychologin Christiane Eichenberg hält insbesondere Erfahrungen in der frühen Entwicklungsphase eines Kindes bis zum 18. Lebensmonat für bedeutsam, die Freud „orale Phase“ nannte: „Störungen oder gar Traumatisierungen in dieser Zeit, in der es darum geht, Urvertrauen aufzubauen, können nachhaltige Auswirkungen haben.“ Solche Störungen könnten bereits in zu wenig Liebe, Zuwendung oder Feinfühligkeit vonseiten der Bezugspersonen bestehen, meint die Leiterin des Instituts für Psychosomatik an der Sigmund- Freud-Privatuniversität Wien.
Das spiegelt auch die Erfahrung der Berliner Psychotherapeutin Hilde A. Urnauer wider, die seit 2006 in der Patientenberatungsstelle „Seele und Zähne“ einmal monatlich Betroffene berät, gemeinsam mit einer Zahnärztin. „Oft sitzen mir Menschen gegenüber, die in ihrer Kindheit keine guten Bindungserfahrungen gemacht haben und emotional nicht ausreichend versorgt wurden“, sagt sie. Die Beratungsstelle ist eine Initiative der Psychotherapeutenkammer und Zahnärztekammer in Berlin. Die Patienten kommen mit einer Überweisung vom Zahnarzt oder Psychotherapeuten. Die Beraterinnen geben eine Einschätzung zur Diagnose ab und äußern Empfehlungen zur weiteren Behandlung. „Wenn Menschen emotional instabil sind, sollten sie zunächst ins Gleichgewicht kommen, bevor eine langwierige Behandlung wie eine Anpassung des Zahnersatzes begonnen oder fortgesetzt wird“, sagt Urnauer.
Davor steht ein wichtiger Schritt: den Gedanken zuzulassen und nicht gleich abzuwehren, dass die Symptome psychosomatisch (mit-)bedingt sein könnten. „Die Zusammenhänge mit seelischen Belastungen wollen und können die Patienten und Patientinnen oft nicht sehen“, so Urnauer. „Manche sind sehr auf eine zahnmedizinische Behandlung fixiert.“ Besonders groß ist der Widerstand, wenn die Beschwerden bereits viele Jahre zahnärztlich behandelt, vielleicht sogar Zähne gezogen wurden – und nun soll plötzlich die Psyche dahinterstecken?
Anne Wolowski bezieht die Frauen und Männer, die sie zahnmedizinisch untersucht, daher intensiv mit ein und schaut sich das Gebiss sehr genau an. So gewinnt sie ihr Vertrauen und ebnet den Weg für die Erkenntnis: Die Zähne sind mein Schwachpunkt. Sie bereiten mir oft Schmerzen und Missempfindungen, ohne dass ein Schaden erkennbar wäre. Ich muss also deswegen nicht ständig eine Zahnärztin aufsuchen.
Aber was kann ich stattdessen tun? Oft hilft das Einüben von Entspannungstechniken wie progressiver Muskelentspannung und Methoden zur Stressbewältigung. Menschen, die tagsüber mit den Zähnen knirschen, können auch mit Biofeedback lernen, die Anspannung in ihrem Kiefer bewusst zu lösen. Dabei registrieren Elektroden an den Wangen die Muskelspannung und das Gerät stellt sie auf einem Bildschirm als Kurve oder Schaubild dar, etwa von einem Ballon, der entweder steigt oder sinkt. Die Betroffenen sehen also unmittelbar, wie stark sie ihren Kiefer gerade anspannen und wann es ihnen gelingt, die Muskeln dort ein wenig zu lockern. Biofeedback wird jedoch nur vereinzelt angeboten.
Manchmal kann eine Psychotherapie hilfreich sein. „Wir versuchen zum Beispiel herauszufinden, welche Funktion die Schmerzen haben“, erläutert Hilde A. Urnauer. Wie bei der Frau, die durch Knirschen ihre Zähne so stark abgerieben hatte, dass ihr Gebiss mit Kronen künstlich erhöht werden musste. Anschließend entwickelte sie starke chronische Schmerzen im Oberkiefer. Nur mit Schmerzmitteln kam sie durch den Tag. Der Zahnarzt erneuerte die Kronen, ohne Auffälligkeiten an den Zähnen zu bemerken. Die Schmerzen blieben.
In der Psychotherapie stellte sich heraus, dass während der Zahnbehandlung die Mutter der Frau gestorben war, sie ein Haus gebaut und einen Umzug vorbereitet hatte. Als sei dies nicht Stress genug, wünschte sich der verwitwete Vater, dass die Tochter sich stärker um ihn kümmern möge. „Auf diese inneren Spannungen reagierte ihr Körper mit Schmerz“, so Urnauers Erklärung. „Die Beschwerden gaben ihr die Erlaubnis, sich abzugrenzen und sich zunächst um sich selbst und nicht um den Vater zu kümmern.“
Zahnärzte und Zahnärztinnen sollten über solche psychosomatischen Zusammenhänge informiert sein – schon aus Eigeninteresse: „Für sie sind diese Patienten schwierig. Sie fragen sich, ob sie in ihrer Diagnostik doch etwas übersehen haben oder bei der Behandlung einen Fehler gemacht haben könnten“, berichtet Urnauer. Durch eine neue Approbationsordnung, die im kommendenWintersemester umgesetzt werden wird, können Zahnmedizinstudierende zukünftig Veranstaltungen in klinischer Psychologie und Psychosomatik als Wahlfach belegen. Das erworbene Wissen könnte ihnen helfen, Frauen und Männer in ihrer Sprechstunde besser zu beraten, mit Psychotherapeuten zu kooperieren – und den Patienten so eine Behandlung zukommen zu lassen, die diesen wirklich hilft. ■
MEHR INFORMATIONEN zaek-berlin.de/themen/seele-und-zaehne.html
Patientenberatungsstelle „Seele und Zähne“ in Berlin, Anmeldung über den Zahnarzt oder Psychotherapeuten: Telefon 030/89004400
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