Leitartikel Der Fall Hongkong: Westliche Werte kann der Westen nicht mehr garantieren.
Bildquelle: Der Spiegel, Ausgabe 34/2019
Festgenommener Demonstrant in Hongkong
MANAN VATSYAYANA / AFP
Sie wollen das, was Deutsche, Franzosen, Briten, Amerikaner schon haben, Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte. Dafür kämpfen sie, mutig, unermüdlich.
Ihr Anliegen ist das des Westens, aber sie leben in Hongkong, weit weg, in China. Allein können sie es kaum schaffen, aber wer hilft ihnen jetzt? Gäbe es noch das »normative Projekt der beiden atlantischen Revolutionen«, müsste der Westen die Demonstranten kräftig unterstützen. Der Historiker Heinrich August Winkler hat diesen Begriff geprägt. Die französischen und amerikanischen Revolutionäre Ende des 18. Jahrhunderts setzten Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte erstmals durch, wenn auch nur teilweise oder vorübergehend.
Aber von da an war ein Anspruch formuliert, die westlichen Werte sollten die Norm sein, nach innen wie nach außen.
Aber wer Normen nach außen durchsetzen will, der braucht Macht, die harte Macht von Waffen und Wirtschaft und in diesem Fall auch die weiche Macht des guten Vorbilds. Auf beiden Feldern steht der Westen nicht gut da.
Das 19. Jahrhundert wurde von den Briten dominiert, das 20. zu einem großen Teil von den US-Amerikanern. Die Briten dachten damals nicht an den Export von Demokratie und Menschenrechten, sie wollten andere Völker unterwerfen, um sie auszubeuten. Das gelang auch in Teilen Chinas, Hongkong wurde für mehr als 150 Jahre britische Kolonie. Pax Britannica nannte man das, obwohl das britische Gebaren wenig mit Frieden oder gar Menschenrechten zu tun hatte. Das normative Projekt galt nur nach innen. Großbritannien wurde zur vorbild - lichen Demokratie.
Die US-Amerikaner trugen das Projekt im 20. Jahrhundert nach außen, zunächst vor allem durch den Präsidenten Woodrow Wilson im Umfeld des Ersten Weltkriegs, erfolgreicher dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich erst Westeuropa und später Osteuropa demokratisierten. Im Jahr 2000 schien eine, relativ friedliche, Pax Americana für große Teile der Welt zu gelten.
Das ist keine 20 Jahre her, aber es war eine ganz andere Zeit, eine andere Welt. Seither scheiterte das normative Projekt in Afghanistan, im Irak, beim Arabischen Frühling, der zur syrischen Katastrophe führte. Der Westen griff mal ein, griff mal nicht ein, das Ergebnis war fast immer fürchterlich.
Spätestens in Foltergefängnissen wie Abu Ghuraib oder Guantanamo verloren die USA auch die Macht des Vorbilds.
Nun ist alles noch schlimmer, weil Donald Trump im Weißen Haus sitzt. Bei diesem Präsidenten, der seine autokratisch regierenden Kollegen aus China und Russland, Xi Jinping und Wladimir Putin, so sehr bewundert, ist überaus fraglich, ob er sich selbst zum normativen Projekt bekennt, ob er Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte wirklich schätzt. Die Nato, die Harte-Macht-Organisation des Westens, hat er mit Zweifeln unterminiert. Nun fehlt die Führungsmacht, die sich entschieden für die westlichen Werte einsetzt.
Träumereien, dass Angela Merkel einen amerikanischen Präsidenten in dieser Rolle ersetzen könnte, haben sich nicht erfüllt. Mit ihrer Flüchtlingspolitik zog sie zeitweilig im linksliberalen Teil des Westens solche Hoffnungen auf sich.
Aber Deutschland hat zu wenig harte Macht, um eine führende Position in der Welt einnehmen zu können, und Merkel sichert eher Exportchancen als west - liche Werte, gerade gegenüber China. Da hielt sie sich mit öffentlicher Kritik bislang zurück.
Auch die Europäische Union, eine Weiche-Macht-Organisa - tion des Westens, hat weltweit kaum Einfluss. Ihr fehlen die Truppen, und sie kann seit dem Brexit-Votum nicht mehr als Vorbild dafür gelten, wie sich Nationalismus dauerhaft überwinden lässt. Damit ist der außenpolitische Teil des 230 Jahre alten Projekts tot. In diesem Zustand kann der Westen keine Normen durchsetzen. Er wird in einigen Teilen der Welt sogar ausgelacht, wenn er sie vorbringt. Kehrt lieber vor der eigenen Tür, heißt es dann. Nicht zu Unrecht. Der Rechtspopulismus bedroht in einigen Staaten des Westens das normative Projekt sogar nach innen.
Was tun? Sich dem Gedanken fügen, dass sich die Pax Sinica durchsetzen wird, die chinesische Weltordnung, die sich nicht um Demokratie, Rechtsstaat und Menschen - rechte scheren wird? Hongkong könnte ein Vorbote sein.
Das wäre ein schwerer Fehler. Wer nicht mehr fordern kann, der kann immer noch werben, kann an die Vernunft der Chinesen appellieren. Es ist insgesamt zu still im Westen angesichts dessen, was gerade in Hongkong passiert.
Ein Garant für westliche Werte kann der Westen im 21. Jahrhundert nicht sein, ein Anwalt aber schon.