... Saladin auf der Stelle, er hatte zuvor Karawanen überfallen und muslimische Pilger getötet. Dem zitternden König von Jerusalem aber reicht er eisgekühltes Wasser. Ein Zeichen, dass er ihn verschont. »Könige töten keine Könige«, soll Saladin angeblich gesagt haben.
Guido von Lusignan, den Großmeister der Templer und andere auserwählte Gefangene lässt Saladin nach Damaskus bringen. Für die gefangenen Templer und Johanniter gibt es keine Gnade. Saladin entscheidet sich für ihre Hinrichtung, »weil sie die härtesten Kämpfer aller Franken sind«. 200 Ordensritter werden auf der Stelle enthauptet. Sogar einige islamische Gelehrte und Sufis beteiligen sich, hacken mit Schwertern auf die Köpfe der Männer ein. Saladin sitzt derweil auf einem Podest, schaut dem Massaker zu; wie sein Sekretär Imad ad-Din schreibt, das »Gesicht voller Freude«.
Der Zorn des Sultans und das christliche Königreich am Abgrund
Die Freude ist aus Saladins Sicht verständlich. Die Schlacht von Hattin am 4. Juli 1187 endet für ihn in einem Triumph – und in einer Katastrophe für die Kreuzfahrerstaaten. Nicht nur gerät der König von Jerusalem in Gefangenschaft, sondern das christliche Heer verliert seine wichtigsten Einheiten: die Ordensritter, gepanzerte, erprobte Kämpfer, die immer verlässlich ausrückten, wenn es galt, eine feindliche Armee aus Ägypten oder Syrien zu bekämpfen.
Die Kreuzfahrerstaaten stehen vor dem Zusammenbruch. Doch noch ist die ideologisch wichtigste aller Städte in ihrem Besitz, Jerusa- lem. Eine kleine Gruppe Christen ist gewillt, die Heilige Stadt bis zum Ende zu verteidigen.
In den Tagen nach der Niederlage von Hattin bricht Chaos in der christlichen Levante aus. Saladin zieht mit seiner Armee an der Küste entlang, die die Kreuzfahrer über 80 Jahre besetzt hielten. Er erobert Burgen und Städte, nimmt die Bewohner gefangen. Angeblich geraten so viele Menschen in die Sklaverei, dass auf dem Markt in Damaskus der Preis für Sklaven einbricht. Ein Chronist berichtet, dass man einen Sklaven gegen ein Paar Sandalen tauschen konnte. Die übrigen Christen im Land flüchten in die befestigte Hafenstadt Tyrus, die noch von einer Garnison gehalten wird. Dort legen Schiffe voller Flüchtlinge nach Venedig und Genua ab. Die anderen Christen suchen Schutz hinter den Mauern von Jerusalem.
Dorthin reitet auch der Baron Balian von Ibelin. Er hatte sich mit einigen Rittern zu Beginn der Schlacht von Hattin vom christlichen Heer abgesetzt und so überlebt. Als er Jerusalem erreicht, möchte er nur seine Frau und Kinder aus der Stadt holen. Doch die Königin Sibylle, Frau des gefangenen Königs, bittet ihn, in der Heiligen Stadt zu bleiben. Sie braucht einen militärischen Anführer, der Jerusalem gegen Saladins Heer verteidigt. Die Stadt ist das spirituelle Zentrum der Christenheit. Die Grabeskirche und viele heilige Reliquien befinden sich innerhalb der Mauern. Jerusalem kampflos aufzugeben scheint für die christliche Herrscherin undenkbar.
Balian von Ibelin muss wissen, dass die Verteidigung fast aussichtslos ist. Viele Frauen und Kinder sind nach Jerusalem geflüchtet, sie alle müssen versorgt werden. Balian befehligt neben der Garnison angeblich nur ein Dutzend Ritter. Er braucht kampferprobte Männer und findet Jünglinge. Jeden Sohn eines Adeligen, älter als 15, schlägt er zum Ritter, dazu 30 nicht-adelige Bürger. Vor allem vertraut er wohl auf Jerusalems mächtige Steinmauer, vier Kilometer lang, mit Wehrtürmen und einer Zitadelle.
Weil Männer fehlen, werden Knaben zu Rittern geschlagen
Am 20. September marschiert Saladins Heer mit mehr als 10 000 Mann vor der Stadt auf. Die Armee verfügt über Mangonels – Katapulte, die Steinkugeln über die Mauern schleudern. Zuerst lässt Saladin die Nordwestmauer angreifen, stößt aber auf erbitterte Gegenwehr. Wie viele christliche Verteidiger genau auf den Wällen stehen, ist unbekannt. Doch ihnen gelingt es, die übermächtigen Angreifer mit Lanzen und Pfeilen einige Tage lang abzuwehren. Dann verlegt Saladin den Hauptangriff auf die Nordostseite der Stadt. Seine Pioniere graben einen Tunnel unter die Stadtmauer. An einem kleinen Abschnitt kollabiert das Fundament, die Mauer sackt ein und macht den Weg in die Stadt frei. In Jerusalem rechnen alle mit dem Tod. Mütter scheren ihren Kindern die Köpfe kahl als Zeichen der Sühne. Barfuß ziehen sie in Prozessionen durch die Straßen und beten.
Die Garnison verteidigt erbittert die Bresche, doch Balian von Ibelin sieht vermutlich ein, dass der Kampf aussichtslos ist. Er bittet Saladin um Verhandlungen. Im Hollywood-Film »Königreich der Himmel« aus dem Jahr 2005 wird diese Szene heldenhaft dargestellt. Orlando Bloom, der Balian von Ibelin spielt, tritt vor die Bresche, das Gesicht verdreckt vom Kampf. Unter einem Baldachin mitten auf dem Schlachtfeld trifft er auf Saladin.
Wie und wo die Verhandlungen in Wirklichkeit stattfanden, ist nicht überliefert. Doch Imad ad-Din hat in seiner Chronik den ungefähren Wortlaut überliefert: Saladin, seinem Sieg nahe, lehnt Bedingungen ab. »Wir werden euch alle töten oder gefangen nehmen und die Armen und die Frauen in die Sklaverei verschleppen«, sagt er zu Balian. Der kündigt im Gegenzug an, dass sie bis zum letzten Mann kämpfen werden, »unser Blut so teuer als möglich verkaufen«. Er droht vorher alle Häuser und Heiligtümer anzuzünden, einschließlich des Felsendoms und der al-Aqsa-Moschee. »Wir werden euch einen Schutthaufen zur Plünderung hinterlassen«, soll er gesagt haben.
Doch Saladin braucht Beute, um seine Gefolgsleute zufriedenzustellen und – noch wichtiger – den propagandistischen Erfolg, die Heilige Stadt für den Islam zu erobern. Balian und Saladin einigen sich auf ein Abkommen mit mehreren Klauseln. Jerusalem wird friedlich übergeben. Alle christlichen Stadtbewohner können sich freikaufen. Jeder Mann muss zehn Dinar zahlen, jede Frau fünf und Kinder zwei. Dafür erhalten sie eine Art Billett, das sie am Tor vorweisen müssen, um nach draußen zu gelangen. Sie erhalten sicheres Geleit ans Meer und dürfen ihren Besitz mitnehmen. Nur Pferde und Waffen müssen zurückbleiben.
Saladin triumphiert in Jerusalem, und Papst Gregor VIII. ruft zum Kreuzzug auf Dazu kommen Sonderabsprachen: Der kommissarische Großmeister der Templer kauft 7000 ärmere Leute frei, für einen Pauschalbetrag von 30 000 Dinar. An den Toren Jerusalems spielen sich bald skurrile Szenen ab. Die Beamten, die für Saladin das Geld eintreiben, sind völlig überlastet mit dem Andrang. Die Bewohner feilschen mit ihnen, bestechen sie, um Verbotenes aus der Stadt zu bringen, nachts seilen sich Bewohner von der Mauer ab, um ohne Zahlung zu entkommen.
Am 2. Oktober zieht Saladin in die Heilige Stadt ein und lässt die al-Aqsa-Moschee feierlich reinigen. »Die Augen der Anwesenden weinten vor Freude, die Herzen schienen zu klein, um das Glück zu fassen.«
Nach 40 Tagen lässt der Sultan die übrigen Bewohner einsammeln und versklaven. Imad ad-Din spricht von 15 000 bejammernswerten Christen, darunter 8000 Frauen und Kinder. Voller Mitgefühl schildert er das tragische Los der vielen Frauen und Mädchen, die von Saladins Soldaten vergewaltigt werden.
In Europa ist man schockiert von der Nachricht, dass Jerusalem unter heidnischer Kontrolle ist. Als ein Bischof dem 67 Jahre alten Papst Urban III. die Nachricht überbringt, stirbt dieser angeblich kurz darauf an Kummer. Sein Nachfolger Gregor VIII. ruft zu einem neuen Kreuzzug auf. Der Verlust Jerusalems scheint die europäischen Höfe so zu schockieren, dass die drei mächtigsten Herrscher des Abendlandes das Kreuz nehmen: König Philipp II. von Frankreich, der König Richard Löwenherz von England und Kaiser Friedrich Barbarossa. Saladins Eroberungen stehen jetzt auf tönernen Füßen.
LESETIPP
Franco Cardini, Antonio Musarra: »Die große Geschichte der Kreuzzüge«. wbg Theiss 2022, € 49,–