... ZUR ZUFRIEDENHEIT IST? ... DER ZUM SPIEGEL.“ EMANUEL WERTHEIMER
Auf der Überholspur.
Ich selbst steckte in der „hedonistischen Tretmühle“ fest und balancierte mit einer äußerst angespannten Haltung durchs Leben. Diese Immer-mehr-und-immer-besserund-immer-schneller-Philosophie überforderte mich maximal. Sie fraß mich auf wie ein Tasmanischer Teufel seine Opfer: mit Haut und Haaren, mit Knochen und Organen. Vor lauter Selbstoptimierungs-Rüstzeug habe ich mich mit New Age und Psychologie-techniken eher verloren als gefunden: Yoga, Meditation, Atem- und Visualisierungsübungen, Achtsamkeitstrainings, Fitness-Challenges, Wellness-Gedöns, Diäten, Erfolgstagebücher, Ratgeberliteratur, Social-Media-Trends, Workshops…und ganz nebenbei noch die berufliche Selbstverwirklichung.
Ich war nur noch mit mir selbst beschäftigt … und lebte dennoch, als würde ich lauter Verpflichtungen mit mir herumschleppen.
Sobald ich ein wichtiges Ziel erreicht hatte, wollte ich mehr davon. Alles Streben nach „noch mehr“ führte mich geradewegs in einen inneren Erschöpfungszustand. Ich war ständig im Mangelmodus, der sich eher nach Leere als nach Fülle anfühlte. Das zog mich runter – und kurbelte den Wunsch, endlich alles besser zu machen, mehr aus mir herauszuholen, erfolgreich und fitter zu sein, noch mehr an. Irgendwann fühlte ich mich so ausgelaugt wie Mutter Erde, auch wenn meine Existenz verzichtbar ist. Und genau hier liegt das Problem: Die in unserer Kultur vorherrschende Machbarkeits-Mentalität, die Idee, dass wir alles erreichen können, wenn wir uns genügend anstrengen, gibt uns das Gefühl, niemals gut genug zu sein. Das überzogene Streben nach Selbstoptimierung nagt an unserem Selbstwertgefühl. Im schlimmsten Fall macht es uns unglücklich und krank. Immer mehr von uns fragen sich inzwischen: Ist das eigentlich das richtige Lebenskonzept? Dieser Beitrag handelt nicht davon, wie wir uns selbst finden, sondern wie wir uns mit uns selbst abfinden. Gibt es eine Alternative zur Selbstoptimierungskultur? Wie können wir dem Selbst-Optimierungs-Wahn trotzen?
„WERDE WER DU BIST.“ FRIEDRICH NIETZSCHE
„Pfeif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn!“
In Anlehnung an diesen pfiffigen Buchtitel des dänischen Psychologen Svend Brinkmann folgen ein paar knackige Anregungen:
1. Höre damit auf, ständig in dich hineinzublicken.
Eine erste selbsttherapeutische Hilfe, um sich vom Selbstoptimierungswahnsinn zu befreien, ist es, damit aufzuhören, ständig in sich hineinzublicken. Denn je mehr wir uns hinterfragen, desto schlechter fühlen wir uns. Wer permanent den Sinn des Lebens in seinem Inneren sucht, könnte radikal enttäuscht werden, wenn er nichts findet – außer gähnende Leere. Oder er verliert sich in völlig alltagsuntauglichen Fragestellungen: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Keine Frage, Grübelphasen und Selbstanalysen hier und da sind wichtig.
Aber eine exzessive Nabelschau lässt uns Defizite aufspüren, wo bis dato keine waren. Zudem macht sie einsam und unglücklich. Heilsamer ist es, unseren Blick wieder mehr nach außen zu richten, auf unsere Mitmenschen, die Natur und andere Kulturen. Um zukünftige Herausforderungen besser zu bewältigen, sollten wir uns lieber dazu durchringen, etwas Unbequemes oder ethisch Wertvolles zu tun: sich das Fahrrad trotz Regenschauer schnappen, im Winter in einem See baden, den Bus nehmen anstatt das Auto, sich bei jemanden für einen Fehltritt entschuldigen oder Nachbarschaftshilfe leisten.
2. Rechne mit dem Schlimmsten.
Wie wäre es in einem zweiten Schritt mal mit einem radikalen Perspektivwechsel? Die Rede ist vom Negativdenken, also stets mit dem Schlimmsten zu rechnen. Was nach paradoxer Intervention klingt, war bereits in der Antike bei den Stoikern ein bewährtes Coaching- Tool. Es gibt genügend Gründe, um sich zu sorgen. Wir werden älter, erleiden Krankheiten und als Sahnehäubchen obendrauf sterben wir.
Deshalb rieten die Stoiker dazu, sich immer wieder Worst-Case-Szenarien vorzustellen, wie zum Beispiel eine schwere Erkrankung, den eigenen Tod oder den eines geliebten Menschen. Die Grundidee: Wer täglich auf dem Radar hat, wie schlimm es kommen könnte, der geht mit größerer Dankbarkeit, Freude und Wertschätzung durchs Leben.
Natürlich hat jeder von uns ein Recht auf gute Laune. Wir sind aber nicht dazu verpflichtet, permanent positiv zu denken oder gar dankbar für einen Schicksals-
schlag zu sein. Nicht alles lässt sich mit „think positive“ schönfärben.
Unser Dasein ist kein ständiger Frühsommertag. Der Zwang zur Positivität in unserer modernen Kultur löst eher Druck und Stressempfinden aus. Das Leben ist manchmal echt hart. Und das muss auch mal genauso gesagt werden dürfen…herumnörgeln und mal so richtig vom Leder ziehen inklusive!
„Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.“ Oscar Wilde
3. Feuere deinen Coach.
Eine weitere Kletterhilfe aus dem Selbst-Optimierungs-Burnout lautet: „Feuere deinen Coach!“ Okay, das muss nicht wortwörtlich aufgefasst werden. Ich will mich schließlich nicht selbst wegrationalisieren. Coaching wird aktuell jedoch zum allgegenwärtigen Entwicklungsinstrument stilisiert. Unser gesamtes Dasein wird „coachifiziert“: Manager-und Mitarbeiter-Coachings, Familien-Coachings, Life-Coachings, Spirituelle Coachings… Coaching gilt mittlerweile als Allheilmittel, die richtigen Antworten auf alle Probleme zu finden und unser Potenzial voll auszuschöpfen. Man höre und staune: Dieser Schuss kann aber auch ordentlich danebengehen. Denn die Ziele eines Coachings sind permanente Selbstentwicklung – egal wie. Aber bedenke: „Gut genug“ sind wir von außen betrachtet sowieso nie. Es gibt immer was zu schrauben. Und wenn wir straucheln und sich der angepeilte Erfolg partout nicht einstellt, fühlen wir uns schuldig, weil wir uns nicht genug angestrengt haben. Keine erfolgreiche Laufbahn? Da hast du dich wohl nicht genügend ins Zeug gelegt! Alternative? Anstatt den nächsten Selbsthilfe-Guru aufzusuchen, sollten wir lieber mal wieder eine Kultur- oder Naturaktivität planen: Zum Beispiel mit einem guten Freund ins Museum oder in den Wald gehen und uns fragen, was wir über unser Leben lernen können, wenn wir nach außen blicken, anstatt immer nur nach innen.
4. Weg mit den Selbsthilfebüchern!
Nachdem wir unseren Coach gefeuert und damit aufgehört haben, ständig nach innen zu blicken, leiden wir möglicherweise unter Selbstentwicklungs-Entzugssymptomen. Wie ein Ex-Raucher auf ein Nikotinpflaster, besteht die Gefahr, dass wir uns auf Selbsthilfebücher und Star-Biografien 30jähriger Popstars stürzen. Stop it! Literatur erster Wahl sollten jetzt Romane sein.
Denn während Selbsthilfebücher uns mit dem Gefühl zurücklassen, die darin angepriesenen Ziele wie Glück, Erfolg, Reichtum und Gesundheit nicht erreichen zu können, erlaubt Belletristik, schöngeistige Literatur, es uns, die Komplexität und Unplanbarkeit des Lebens besser zu verstehen. Sie zeigt uns, wie vielschichtig, zufällig, chaotisch und unregierbar das Leben ist. Denn Fakt ist: Wir haben nur bedingt die Kontrolle über unserer Lebensplanung. Mithilfe von Romanen lernen wir, mit diesen Widrigkeiten des Lebens besser umzugehen.
Unter uns: Der Grund dafür, dass jährlich Tausende von Selbsthilfebüchern publiziert werden – mit deren Hilfe wir uns selbst optimieren sollen – ist ja gerade, dass diese Literatur keinen nennenswerten nachhaltigen Effekt hat.
Ja, ich weiß, ich schreibe diese Sätze für ein Magazin (das, das du grad in der Hand hältst), das auch voller Tipps zur Selbsthilfe ist. Mache also gern eine Lesepause, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Und dann lies weiter. Wichtig ist: Wenn du Artikel wie diese liest, erwarte Inspiration, aber keine Wunder und bleibe auch weiterhin du selbst.
5. Besinne dich auf die Vergangenheit.
Zu guter Letzt noch ein Tipp. In unserer fortschrittsausgerichteten Kultur ist die Vergangenheit out, das Hier und Jetzt der letzte Schrei. Wir haben die Bedeutung des Bewährten, der Rituale und Traditionen total aus den Augen verloren.
Doch um zu wissen, wer wir sind, müssen wir verstehen, woher wir kommen. Mithilfe von Achtsamkeitspraktiken sollen wir heute präsent sein, um morgen Erfolg zu haben. Dagegen ist es unpopulär geworden, auf die Vergangenheit zurückzugreifen, da unser Mindset auf die Zukunft und die Idee des Fortschritts ausgerichtet sein soll.
Ich frage mich: Warum sind wir denn mit der einzigartigen kognitiven Fähigkeit ausgestattet, uns an vergangene Ereignisse zu erinnern oder Errungenschaften früherer Generationen auf neue zu übertragen? Um unser Leben gestalten und unsere Kultur weiterentwickeln zu können, sollten wir diese Befähigung auch nutzen.
Traditionen pflegen
Was können wir tun? Wir sollten wieder Traditionen pflegen, um an die Tiefe und Verwurzelung erinnert zu werden, die unser Leben hat. In dem Moment, in dem wir an solchen Traditionen teilhaben – im Familien- und Berufsleben, in unseren Freundschaften, in der Freizeit – werden wir zu erfüllten Menschen. Denn neben der selbstoptimierenden Flexibilität brauchen wir in unserem Miteinander vor allem Stabilität und Zuverlässigkeit. Ergo: Wiederhole dich in deinen Handlungen, so oft es geht. Suche nach Vorbildern, die sich bewährt haben. Bestehe auf dein Recht, zwischendurch stillzustehen.
Frieden entsteht bei uns.
Zurück zu mir und meinem Selbstoptimierungs-Tick. Heute weiß ich, dass sich mein Leben am meisten da erfüllt, wo ich lebendig und mit mir selbst im Einklang bin. Ohne dabei irgendeinem Zweck genügen zu müssen. Glück, Zufriedenheit und das Gefühl von Sinn entstehen im Provisorischen. Dann, wenn wir wieder mit uns selbst im Kontakt sind. Wenn wir uns zwischendurch auch gestatten, anzukommen. Es ist ein Gefühl von Resonanz mit sich und der Welt.
Wer wir sind, entscheidet sich also nicht danach, wer wir sein wollen, sondern daran, wie wir Antwort geben auf das, was uns das Leben zu sagen hat. Nur so entsteht Wachstum, das zur Blüte führt. <
CONNY THALER