" Ich hing am Fallschirm und lebte. Ich hätte ‚Hurra!‘ schreien können vor Glück.“
Wilhelm Simonsohn
Aus dieser eindringlichen Reise in die Vergangenheit lässt sich für die Gegenwart lernen. „Unsere 100-Jährigen haben politische und gesellschaftliche Umbrüche in einem Ausmaß miterlebt, wie sie für viele heute kaum vorstellbar sind“, erklärt Filmautorin Heike Schieder. Von ihr stammt die Idee zu dem Projekt. „Hineingeboren in die Goldenen Zwanziger, verlebten die meisten unserer Porträtierten eine glückliche Kindheit, dann kam der Umbruch mit Weltwirtschaftskrise, Nazizeit und Zweitem Weltkrieg. Nach dem Kriegsende sind Not und Neuanfang, gefolgt von Wirtschaftswunder, Mauerbau und Wiedervereinigung, die historischen Wegmarken.“
Zum Beispiel bei Anna Möschter (u. l.). Die Bergmannstochter aus Saarbrücken hatte acht Geschwister. Die Kinder arbeiteten mit, verstanden sich gut. Familie war für sie immer das Wichtigste. Für die Liebe zog sie als junge Frau nach Hamburg.
Hochzeitsmantel aus Wehrmachtsdecke
Bei der Hochzeit 1945 trug sie einen Mantel, genäht aus einer Wehrmachtsdecke. „Es gab ja nichts.“ Das Paar improvisierte. Die Steine für ihr Haus sammelte Anna Möschter aus Kriegstrümmern selbst: „500 Steine habe ich geklopft.“ Die Möschters bauten an einem Elbarm, bekamen fünf Kinder. Im Haus unterhielt sie eine Postfiliale. Vor Weihnachten stapelten sich die Pakete bis auf die Terrasse. Bei der Sturmflut 1976 wurde das Haus überschwemmt, die Familie verlor alles. Sie zog an die Hauptkirche St. Michaelis, den „Michel“. Möschter setzte alle Kraft in den Neuanfang, mochte die neue Gegend, arbeitete bei der Post im Fernsehturm.
Diese aktive Haltung fiel Heike Schieder auch bei anderen Interviewpartnern auf: „Mein Eindruck: Sie haben immer nach vorn gewandt gelebt, keiner hat mit Entbehrungen lange gehadert. Motto: Es hilft ja nichts, wir müssen weitermachen.“ Anna Möschter starb nach Ende der Dreharbeiten. Der Beitrag läuft wie geplant, so wünschen es die Angehörigen.
Wilhelm Simonsohn (102)
Hamburg. Sein Adoptivvater ist Jude, stirbt 1939 an Folgen der KZ-Haft. Er selbst überlebt 1944 als Pilot der Luftwaffe einen Abschuss über Belgien. Er wird Verwaltungsleiter im Krankenhaus, bereist mit seiner Frau im VW- Bulli die Welt, engagiert sich als Zeitzeuge
Helga Klüver (100)
Eckernförde. Mit ihrer 1944 geborenen ersten Tochter im Arm erlebt sie die Bombennächte. Als ihr Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, ist das Kind fast vier. Sie spielt Klavier, singt. Fünf Enkel, acht Urenkel, ein Ururenkel
Es liegt in der Natur des Projekts: Interviews mit 100-Jährigen sind ein Vermächtnis. Ein bleibender Schatz. Interessant: „Die historischen Krisen werden nicht so groß wahrgenommen wie private Tragödien“, erklärt Heike Schieder. „Der Tod des Ehemanns oder der Ehefrau ist viel einschneidender als so mancher politische Wandel.“
Erstaunlich sind Kraft, Wille und Durchhaltevermögen dieser Generation. So hat Hermine Trimde (unten) für ihre Zeit sehr selbstbestimmt gelebt. Gegen den väterlichen Willen machte sie eine Schauspielausbildung, doch dann beendete eine Schwangerschaft ihren Traum von der Bühnenkarriere. 1941 zog sie mit ihrem deutschen Mann und dem Baby vom lettischen Riga nach Deutschland. Die Ehe scheiterte. Alleinerziehend zog sie sechs Kinder groß, heiratete dreimal. Sie machte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, unterrichtete, nähte: „Meine Nächte waren sehr kurz“, sagt Trimde, die seit 1952 in Rostock lebt. „Es war damals wie heute: Alleinstehende Frauen kommen schlecht mit ihrem Geld durchs Leben.“ Sie freut sich, dass sie eine intakte Familie hinterlässt und schwärmt vom Mauerfall: „Wir sind sofort nach Hamburg gefahren.“
Eine Ba roness im Schweinestall
Einen ungewöhnlichen Weg ging auch Irmgard Rosenkranz (o. r.). Ihre Familie gehört zum märkischen Uradel, einem der ältesten Adelsgeschlechter der Prignitz. Geboren als Irmgard Gans Edle Herrin zu Putlitz wuchs die Baroness in Pommern auf. Sie liebte das bäuerliche Leben, konnte melken und kannte sich mit Schweinen aus: „Eine feine Dame war ich nie.“ Die Familie war adlig, aber nicht reich. Irmgard lauschte mit ihren Schwestern begeistert der NS-Propaganda im Radio, marschierte im „Bund Deutscher Mädel“. Ihr Vater war entsetzt, er kannte die Gräuel des Ersten Weltkriegs. „Wir haben erst viel später kapiert, was Adolf Hitler eigentlich war.“ 1945 floh sie vor den Russen, hatte nur ihren Tauf becher und Zeugnisse dabei.
Irmgard Rosenkranz (99)
Stammt aus dem märkischen Uradel, liebt als Kind das bäuerliche Leben. Mitglied im „Bund Deutscher Mädel“. 1945 Flucht aus Pommern. Landwirtschaftliche Berufsschullehrerin und Schweinezüchterin in der DDR: „25 Jahre LPG Schweinestall“
In der DDR wurde sie landwirtschaftliche Berufsschullehrerin, zog mit ihrem Mann Max nach Mecklenburg-Vorpommern. Das Paar betreute zeitweilig 600 Sauen für eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. „Rübermachen“ kam ihr nicht in den Sinn. Sie hatte ja ihren Max und die Schweine. Ihren Siegelring hat sie zweimal durchgearbeitet. Das Jungrezept der Preußin: immer arbeiten, viel lesen, Gedichte auswendig lernen. Viel Gemüse, wenig Fleisch, kein Alkohol, keine Zigaretten.
So unterschiedlich die Charaktere sein mögen, es gibt verbindende Leitmotive. Alle ziehen positiv Bilanz, sind zufrieden und schöpfen Kraft aus der Familie. Irmgard Rosenkranz lebt mit mehreren Generationen zusammen. Wilhelm Simonsohn diskutiert Umweltthemen mit der Enkelin. Sein Wissensdrang ist ungebrochen. Als das Filmteam ihm eine Pause anbietet, macht er weiter. Vier Stunden lang.
Was hat Filmemacherin Heike Schieder angesichts von 900 Jahren Lebenserfahrung am meisten beeindruckt? „Die Neugierde, die Wachheit und die positive Einstellung bei allen.“
DAGO WEYCHARDT
Hermine Trimde (102)
Als sie mit 19 schwanger wird, endet ihre Schauspielkarriere. Sie kommt 1941 nach Deutschland, lebt ab 1952 in Rostock. Sechs Kinder, alleinerziehend und berufstätig, drei Ehen. Legt viel Wert auf Selbstbestimmung. Zur Wende sagt sie: „Ein wunderbares Gefühl!“
”Eine feine Dame war ich nie.“
Irmgard Rosenkranz, geborene Irmgard Gans Edle Herrin zu Putlitz
IM NETZ Zeitzeugen hautnah
Stöbern Sie mit: Neun Frauen und Männer, alle um die 100 Jahre alt, erzählen von ihren emotionalsten Momenten und einschneidenden Erlebnissen und haben ihre Fotoalben geöffnet. Das aufwendig gemachte Online-Angebot bietet Videos, Biografisches und Bildergalerien. Die Webvideos sind in Kapitel entlang der 100-jährigen Historie unterteilt, die sich per Mausklick einzeln ansteuern lassen ndr.de/jahrhundertleben