... Seiten geschrieben, die weniger ein Roman sind, als eine Ansammlung von Gedanken, Episoden, Novellen, Genrebildern der bürgerlichen Familie, Vignetten, Aphorismen und Literaturkritiken eines manischen Erzählers, dessen Eckdaten jenen des Autors ähneln. Eines erzählenden Ichs, das monologisiert – intelligent, weitblickend, scharfsinnig, und in einem Stil, der derart packend ist, dass man als Leserin tatsächlich dran bleibt. Anlass des Schreibens ist ein Verbrechen, das 1975 von drei Jugendlichen an zwei Mädchen verübt wurde. Die zwei Tage dauernden, grausamen Misshandlungen und Vergewaltigungen überlebte nur eines der Opfer. Die Täter gingen in dasselbe katholische Gymnasium in Rom, das auch Autor und Ich-Erzähler dieses grandiosen Gedankenromans besuchten. Das Buch versteht sich als Abrechnung mit der italienischen Gesellschaft, der katholischen Kirche sowie katholischen Erziehung, und erzählt von männlicher Gewalt. Und das derart meisterhaft, dass daraus ein monumentaler Roman entstand, mit dem Albinati über Italiens Grenzen hinaus bekannt wurde.
Seine Sprechstimme ist angenehm, sonor. Edoardo Albinati redet, wie viele Italiener, ausdrucksvoll, ständig hebt er dabei die markanten Augenbrauen, allerdings gestikuliert er maßvoll, spricht langsam, und man lauscht als Zuhörerin gebannt seinen Worten, egal ob geschrieben oder gesprochen. Er verschreibt sich dabei einem, man könnte vielleicht sagen, konservativen Sprachstil, jedenfalls einem wohl ausgebildeten, wohl formulierten, mit reichem Wortschatz und langen Satzkonstruktionen. Mit eben dieser sprachlichen „Waffe“ schlägt er wortgewaltig, aber stets mit Stil zu, wenn es um Kritik an der italienischen Gesellschaft und Strömungen der Zeit geht. Albinati war nach der Jahrtausendwende Mitglied einer Mission des UN-Flüchtlingskommissariats in Afghanistan, später im
Jemand, der ein Buch von mir liest, weiß nicht, was er finden wird, genauso wenig, wie ich selbst weiß, wann ich ein neues Buch zu schreiben beginne.“
Tschad, worüber er auch fleißig in den Zeitungen berichtete. Er ist bekannt als „Linker“, aber gleichzeitig, wie so viele Italiener, stolz darauf, „italiano“ zu sein. „Moltissimo“, antwortet er, „überaus“ stolz sei er. „Und sehr stolz darauf, diese Sprache zu beherrschen, und manchmal von ihr beherrscht zu werden!“ „Leider wird der Begriff, Italienisch‘ heute zu oft von aggressiven Slogans des armseligen Teils meiner Heimat missbraucht, also von denen, die weder über die italienische Geschichte noch über die italienische Kultur Bescheid wissen. Im Übrigen war Italien seit jeher die Wiege der extremen, manchmal tödlichen politischen Experimente. Man muss eben zumindest ein bisschen die Geschichte kennen, um von ihnen zu wissen und zu erkennen, wie man der von ihnen ausgehenden Gefahr begegnet.“
Wir führen das Gespräch auf Italienisch. Gerade diese seine Muttersprache, meint er, wäre das typisch Italienische seiner Bücher und seines Schreibens. Die Geschichte des Ehebruchs beispielsweise könnte überall spielen, die beiden Protagonisten sind nicht Italiener, sondern Menschen, die getrieben werden von Verlangen, von raschem und verzehrendem Verlangen, die sich selbst ausklammern von der Gesellschaft und sich der Illusion ihres alleinigen Daseins auf der Welt hingeben. Was aber nicht austauschbar sei, sondern ureigen „italienisch“, sei eben der Gebrauch der Sprache. „Ich schöpfe aus der gesamten möglichen Ausdruckskraft unseres sprachlichen Erbes.“
Edoardo Albinati wurde 1956 in Rom geboren, wo er auch heute noch lebt. Er ist Drehbuchautor und Übersetzer (u. a. von Vladimir Nabokov, Robert Louis Stevenson, William Shakespeare). Ab 1984 arbeitete er als Redakteur für die Zeitschrift „Nuovi Argomenti“. Er gibt Häftlingen Italienisch-Unterricht und engagiert sich in der Flüchtlingshilfe. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Ein Ehebruch Übers. v. Verena von Koskull, Berlin Verlag, 128 S.
Die katholische Schule Übers. v. Verena von Koskull, Berlin Verlag, 1296 S.
foto: mARco DeLoGu