Appelle und Zweifel: Habe ich etwas zu gewinnen?
Der Appell, dass Lehrpersonen wegkommen vom „Ich und meine Klasse“ hin zu „Wir und unsere Schule“ steht schon lange im Raum (vgl. eine kurze Historie in Schratz et al., 2010, S. 95f). Einige Schulen sind diesen Weg sehr weit gegangen, z.B. die Elisabeth-Selbert-Schule, Deutsche Schulpreisträgerin 2017. Deren Schulleiterin stellt den zweiten Appell wörtlich in der Öffentlichkeitsarbeit heraus. Im Schulprogramm kommt „Wir“ 50 Mal vor. Andere Schulen stehen am Anfang. Das Zögern kommt vielleicht auch daher, dass der unterstellten Einschränkung des Freiheitsund Spielraums die bange Frage gegenübersteht: Habe ich wirklich etwas zu gewinnen?
Klare Forschungslage: Lehrpersonen wirken kollektiv
Die Forschungslage zur „Kollektiven Wirksamkeitserwartung der Lehrpersonen“ vermag hier Antworten zu geben. John Hattie hat diese bereits vor zehn Jahren in „Lernen sichtbar machen“ hervorhoben: Er sprach die Lehrpersonen – im Plural – an (Hattie, 2016, S. XVI). In der aktualisierten und erweiterten Übersicht zu den Faktoren, die Lernleistungen beeinflussen, wird der Faktorcollective efficacy of teachers sogar als einer der stärksten ausgewiesen (vgl. Beywl & Zierer, 2018). Lernleistung und Lernzuwachs der Schülerinnen und Schüler entwickeln sich in solchen Schulen oft überdurchschnittlich. Basis für diesen Forschungsbefund ist eine 2011 von Rahel Eells veröffentlichte, frei downloadbare Metaanalyse.
Gemeinsame Wirksamkeitserwartungen reduzieren Unterschiede der Herkunft
Jenni Donohoo (2017) haben diese Befunde zu einem Buch darüber veranlasst, wie dieser Faktor systematisch gestärkt werden kann. Sie ist eine erfahrene Schulentwicklungsberaterin aus Ontario, Kanada und hat auch zwei Bücher zum Thema „Collaborative Inquiry“ veröffentlicht – einem wichtigen Zugang zur Wirksamkeitserwartung des ganzen Kollegiums. Ganz wie in „Lehren und Lernen sichtbar machen“ geht es um Folgendes: „Wie kann ein Lehrpersonen-Team Lernziele formulieren, analysieren, dann umsetzen und evaluieren, und dabei Schülerinnen und Schüler aktivieren und das Programm der Schule umsetzen?“ (Donohoo, 2014, Umschlagtext). Nachfolgend werden zentrale Überlegungen von Donohoo vorgestellt, verbunden mit eigenen Erfahrungen einer evidenzbasierten Schul- und Unterrichtsentwicklung.
Donohoo übernimmt Megan Tschannen-Morans und Marilyn Barrs (2004, S. 190) Definition:
Kollektive Wirksamkeitserwartung meint die Selbstwahrnehmung der Lehrpersonen einer Schule, bei ihren Lernenden einen pädagogischen Unterschied machen zu können, mindestens in der Höhe, wie Elternhaus und Sozialraum Einfluss nehmen – und darüber hinaus.
Mit dieser Überzeugung könnten auch andere starke Einflussfaktoren wie sozioökonomischer Status, Elternunterstützung oder häusliches Anregungsniveau kompensiert werden. Quelle für diese Wirksamkeitserwartung ist, dass Teams … (Donohoo, 2017, S. 8 ff.) … belegte Erfolge (mastery ) haben und diese Auslösern zuschreiben, die in ihrer Kontrolle liegen. So verstärkt sich die kollektive Wirksamkeitserwartung und die Teams sind zuversichtlich, dass sie ihre wirksamen Leistungen wiederholen können. …stellvertretende Erfahrungen (vicarious experience ) machen: Wenn die Lehrpersonen einer Schule sehen, dass andere, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, diese gut bewältigen, dann führt dies zu der Annahme, dass auch sie solche Hindernisse überwinden können.
Hinweise für die Schulentwicklung
Schulleitungen, externe und interne Veränderungsagentinnen und -agenten, darüber hinaus praxisintegrierte Weiterbildungen und interne Evaluationen können den Boden bereiten für kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen.
Gelingensbedingungen sind (Donohoo, 2017, S. 28–34):
• Geteilte und delegierte Leitung : Wie können möglichst viele Stakeholder in für die Schulentwicklung relevanten Bereichen (z.B. Umsetzung von Lehrplänen, schulinterne Weiterbildung, Elternmitwirkung) ermächtigt werden? Wie kann ihr Einfluss auf relevante Entscheidungen geregelt und transparent gemacht werden?
• Übereinstimmung in zentralen Zielen: Eine starke Überzeugung, dass das Kollegium die Qualität von Lehren und Lernen erhöhen und angemessen herausfordernde Ziele erreichen wird, abgestützt auf einen gemeinsamen Prozess der Zielklärung.
• Teamleistungen würdigen und hervorheben : Erste auch kleine Gewinne der Teamarbeit hervorheben.
• Gegenseitige Informiertheit über die Arbeit der anderen: durch kollegiale Hospitationen, Videoeinsatz, gemeinsames förderndes Bewerten, Lesson Study, Luuise usw. Auch der Austausch von Unterrichtsmethoden, Aufgaben und Schülerprodukten ermöglicht kollaboratives Lernen der Lehrpersonen. Wichtig sind regelmäßige Anlässe, an denen Unterrichtsentwicklungen und ihre Untersuchungen schulweit und evtl. darüber hinaus präsentiert werden.
• Kollegiums-Kohäsion : Immer wieder die Teams ansprechen und einzelnen Lehrpersonen ermöglichen, ‚wie ein Team‘ zu denken; Zusammenarbeit wiederholt anregen; den Beitrag der einzelnen Lehrpersonen zur Erreichung gemeinsamer Ziele hervorheben.
• Responsivität der Leitung: Deren Wahrnehmungs- und Antwortbereitschaft ist oft wichtig – in Bezug auf Details und kleine Ereignisse in der Schule. Hält etwas das Team davon ab, seine Aufgaben effektiv zu erfüllen? Wenn ja, was kann getan werden, sodass sich das Team unterstützt fühlt?
• Effektive Interventionsverfahren: Eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe kann eruieren, welche Interventionen es gibt, die besonders wirksam für Lernleistung und Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler sind (vergleiche dazu die drei Unterrichtsdomänen mit über 100 Einflussfaktoren in Beywl & Zierer, 2018). Welche davon sind in der eigenen Schule anwendbar? Hier spielt wieder stellvertretende Erfahrung eine wichtige Rolle.
Schulleitende können außerdem … (Donohoo, 2017, S. 36–49)
… Gelegenheiten für wirklich bedeutungsvolle Zusammenarbeit schaffen,
…Lehrpersonen schrittweise mehr Verantwortung und Entscheidungsmacht geben (bis hin zu von Lehrpersonen initiierten gemeinsamen Entscheidungen),
…attraktive Ziele und hohe Erwartungen setzen,
…Teams unterstützen, Lernleistungen systematisch zu interpretieren und wirkungsvolles Lernfeedback zu geben.
Schulinterne Weiterbildungen bieten große Chancen, kollektive Wirksamkeitserwartungen zu stärken, wenn sie … (Donohoo, 2017, S. 52–54)
1. über eine längere Zeitperiode verlaufen,
2. bedeutsame Zusammenarbeit verstärken,
3. in der alltäglichen Praxis der Lehrpersonen verankert sind,
4. Reflexion auf Basis von datengestützten Belegen zu Lernenden-Outcomes ermöglichen,
5. den Einfluss der Lehrpersonen erhöhen,
6. ihr Vermögen, Leitung zu übernehmen, stärken,
7. immer wieder die Quellen für Wirksamkeitserwartung anzapfen (s.o.).
Die integrierte formative Evaluation des Unterrichts ist ein Schlüssel dafür, kollektive Wirksamkeitserwartung systematisch zu stärken. Lehrpersonen führen gemeinsam systematische Untersuchungen durch, mit vier Schritten (Donohoo, 2017, S. 75–91):
1. Untersuchungsfokus festlegen und Intervention planen
2. Veränderungen in der Praxis umsetzen und dazu Daten sammeln
3. Daten zu Lernergebnissen der Schülerschaft auswerten und interpretieren
4. Folgerungen ziehen, das Gelernte dokumentieren und kommunizieren
Ansätze, im Team von Lehrpersonen gemeinsam Unterricht und dessen Untersuchung zu planen und umzusetzen (vgl. Isak, 2016, für Lesson Study oder Beywl & Odermatt, 2016, für Luuise) oder als Schulteam integrierte interne Evaluationen durchzuführen (Härri, 2018), gewinnen mit der Forschung zur kollektiven Wirksamkeitserwartung an Attraktivität.
Auf die Frage, wie die für diese kollektiven Lern- und Untersuchungsprozesse erforderlichen Ressourcen mobilisiert werden können, geht Donohoo nicht ein. Neben Mitteln für Weiterbildung und externer Beratung braucht es genügend interne Ressourcen für die Teamarbeit. Anfangsinvestitionen in die Stärkung der kollektiven Wirksamkeitserwartung lohnen sich, wenn die Lernfortschritte der Schülerschaft steigen und der Unterricht durch deren erhöhte Selbstregulationsfähigkeit effizienter wird.
„Wir und unsere Schule“ konsequent weitergedacht heißt: mehr Verantwortungsübernahme und Entscheidungsmacht für viele Lehrpersonen – in Bezug auf die Schule als Ganze; ermächtigte Kollaboration und systematische Untersuchungen als Treiber für gute Schülerleistungen und effektives Lernen auch und gerade der Lehrpersonen.
Literatur
Beywl, W. & Zierer, K. (2018). 10 Jahre „Visible Learning“ – 10 Jahre „Lernen sichtbar machen“. In: Pädagogik 9 (70), S. 36–41. Faktorentabelle online verfügbar unter: /Kategorie:Faktoren (30.1.2019). Beywl, W. & Odermatt, M. (2016). Luuise – Lehrkräfte untersuchen und reflektieren ihren eigenen Unterricht. In: journal für schulentwicklung 4/2016, S. 33–39. Donohoo, J. (2014). Collaborative inquiry for educators: a facilitator’s guide to school improvement. Thousand Oaks, California: Corwin. Donohoo, J. & Velasco, M. (2016). The transformative power of collaborative inquiry: realizing change in schools and classrooms. Thousand Oaks, California: Corwin, a SAGE Company. Donohoo, J. (2017). Collective efficacy how educators’ beliefs impact student learning. Thousand Oaks: Corwin. Eells, R. J. (2011). Meta-analysis of the relationship between collective teacher efficacy and student achievement. Chicago: Loyola University. Online verfügbar unter:http://ecommons.luc.edu/luc_diss/133 (30.1.2019). Härri, R. (2018): Wie kann die interne Evaluation für die konkrete Schul- und Unterrichtsentwicklung nutzbar(er) gemacht werden? In: SchulVerwaltung NRW, 2, S. 51–53. Isak, G. (2016): Lesson Study als Modell professioneller Reflexion am Schulstandort. In: journal für schulentwicklung 4/2016, S. 27–32. Schratz, M. & Hartmann, M. & Schley, W. (2010). Schule wirksam leiten. Analyse innovativer Führung in der Praxis. Münster: Waxmann. Tschannen-Moran, M. & Barr, M. (2004). Fostering student learning: the relationship of collective teacher efficacy and student achievement. In: Leadership and Policy in Schools 3 (3), pp. 189–209.
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