TV-AnwaltIngo Lenßen (58) wirft einen kritischen Blick auf die Schieflagen in der deutschen Rechtsprechung
INGO LENSSEN Er arbeitet seit über 25 Jahren als Anwalt und ist durch TV-Sendungen wie „Richter Alexander Hold“ bekannt
TV-Tipp
3 nach 9 Talkshow, Gäste u. a. Ingo Lenßensa 1.6. 10.25 Uhr HR
Ungerechtigkeit ist für ihn ein rotes Tuch – vor allem wenn seine Arbeit im Gerichtssaal davon betroffen ist. Und so hat sich Ingo Lenßen, Deutschlands bekanntester Strafverteidiger, in seinem neuen Buch (s. r.) mit Gerichtsurteilen befasst, die für ihn nicht nachvollziehbar sind. „Dass ein Dealer für eine relativ geringe Menge Drogen eine fünfjährige Freiheitsstrafe bekommt und Gruppenvergewaltiger nur Bewährungsstrafen, das ist extrem fragwürdig“, erklärt der Jurist. „Oder wenn bei ähnlichen Delikten das Strafmaß weit auseinanderliegt. Da kann ich nur den Kopf schütteln.“ Werden Verbrechen nicht überall gleich bestraft? Wird mehr auf die Täter als auf die Opfer geschaut? Super TV dokumentiert vier Fälle.
1: Wenn Totschlag zu mild be straft wird
Bei einer Prügelei in einem Festzelt biss ein Besucher einem Mann fast das komplette Ohr ab. Das Urteil: Der Täter bekam eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten. In einem anderen Fall erstach ein 17-Jähriger vor einer Shisha-Bar einen 19-Jährigen. Der Richter milderte das Urteil aufgrund verminderter Schuldfähigkeit wegen Drogenkonsums ab, verhängte eine Jugendstrafe von gut sieben Jahren.
►Das meint Ingo Lenßen: „In beiden Fällen habe ich die Opfer bzw. deren Familien vertreten: Mit dem ersten Urteil bin ich zufrieden – mit dem zweiten nicht. Denn es ist wahrscheinlich, dass die rund 7-jährige Haft nach einem Drittel der verbüßten Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Richter begründete es damit, dass er dem Angeklagten noch eine Chance für die Zukunft geben will. Für die Opferfamilie schwer verständlich …“
2: Prügel-Demonstranten: Manche kommen davon
Pegida-Demonstration in Dresden: Ein Betrunkener, mehrfach vorbestrafter Mann schlug einem Kameramann ohne Grund so hart ins Gesicht, dass der Schädelknochen brach. Vor Gericht zeigte sich der Täter geständig, entschuldigte sich, sodass er mit einer Geldstrafe von 4.950 Euro davon kam. Deutlich härter bestraft wurde dagegen ein holländischer Demonstrant beim G20-Gipfel in Hamburg: Er warf zwei Flaschen auf einen Polizeibeamten in Schutzmontur, der bei dem Angriff unverletzt blieb. Das Urteil: zwei Jahren und sieben Monate Freiheitsstrafe.
► Das meint Ingo Lenßen: „Warum muss ein Demonstrant wegen eines Wurfs ohne Folgen ins Gefängnis? Und ein anderer, der jemanden schwer verletzt hat, bekommt nur eine Geldbuße? Fakt ist: Polizisten werden gerichtlich besonders geschützt und das ist auch gut. Doch hätte der Flaschenwerfer auf einen Familienvater geworfen, wäre das Verfahren wahrscheinlich eingestellt worden. Ist das gerecht?“
3: Mord – oder nur Übermut?
Sechs Jugendliche warfen ein brennendes Taschentuch auf einen schlafenden Obdachlosen und flohen. Das Opfer kam dank der Hilfe von Passanten ohne Verletzungen davon. Das Gericht verurteilte den Haupttäter zu knapp drei Jahren Jugendstrafe, die anderen Täter erhielten Bewährungsstrafen. Im nächsten Fall lieferten sich zwei Männer ein Autorennen in Berlin, kollidierten dabei mit einem dritten Auto, wobei der Fahrer des Fahrzeugs starb. Die Raser wurden wegen Mordes schuldig gesprochen, legten aber Revision ein. Das Urteil steht noch aus.
►Das meint Ingo Lenßen: „Bei beiden Taten hängt die Höhe der Strafe davon ab, ob vorsätzlich gehandelt wurde oder nicht – was allein das Gericht entscheidet. Die Frage ist: Waren sich die Täter darüber im Klaren, dass durch ihr Handeln ein Mensch sterben kann? Bei den Jugendlichen verneinten es die zuständigen Richter, bei den Rasern bejahten sie die Frage.“
BUCH-TIPP
„Ungerechtigkeit im Namen des Volkes“ Gräfe und Unzer, 19,99 Euro
4: In Berlin kürzere Haf tstrafe Manche kommen davon als in München
Ein Berliner Busfahrer wurde während seiner Arbeit von zwei Männern niedergestochen. Eine Frau, die im Bus saß und helfen wollte, wurde ebenfalls verletzt. Das Urteil: Haftstrafen von dreieinhalb bzw. drei Jahren. Anders in München: Zwei Männer, die einen Rentner in einer U-Bahn durch Schläge schwer verletzten, wurden zu zwölf bzw. achteinhalb Jahren Haft verdonnert.
► Das meint Ingo Lenßen: „Auch wenn der Münchner Rentner schwerer verletzt wurde als der Busfahrer: Hier zeigt sich, dass die Härte von Strafen doch immer wieder abhängig von Bundesländern ist. Denn bei beiden Tathergängen lässt sich erkennen, dass es den Tätern offensichtlich egal war, dass sie durch ihre Taten die Opfer hätten umbringen können – trotzdem wird in dem einen Fall milder geurteilt.“
ZAHL DER WOCHE: 37
Prozent der Mädchen, die heute geboren werden, erleben ihren 100. Geburtstag, das ergaben neue Berechnungen. Und immerhin ganze 77 Prozent werden über 90 Jahre alt. Bei den Jungen sieht es anders aus: Da sind es nur elf Prozent, die 100 Jahre schaffen.
Fotos: Gräfe und Unzer (2), imago images, Istock (2), picture alliance