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Was tun gegen Aufschieberitis?


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familie & co - epaper ⋅ Ausgabe 7/2022 vom 07.07.2022

Du, Mama, ich muss dir was sagen“, murmelt der neunjährige Leon, als er mit schuldbewusstem Gesicht in die Küche schleicht.

Seine Mutter ist gerade dabei, das Abendbrotgeschirr in die Spülmaschine zu räumen. Jetzt hält sie inne und seufzt, weil sie ahnt, was kommt. „Sind da noch irgendwelche Hausaufgaben, von denen du mir nichts gesagt hast?“, fragt sie.

Zerknirschtes Kopfnicken. „Mal wieder Mathe?“ Leon nickt erneut und blickt zu Boden. Dieses Geständnis ist ihm über die Maßen peinlich – aber es ist leider unumgänglich. Denn wenn er morgen schon wieder ohne Hausaufgaben im Unterricht auftaucht, gibt es wirklich Ärger. Schon viel zu oft hat er sich mit Ausreden entschuldigt – und natürlich jedes Mal versprochen, dass alles besser wird. Seine Mutter schiebt ihren Ärger beiseite, diesem Unglücksraben an der Küchentür kann sie nicht böse sein. Aber sie macht sich langsam Sorgen: In letzter Zeit ist ihr Jüngster enorm unzuverlässig geworden. Ständig diese Minidramen wegen der Hausaufgaben; ausgerechnet jetzt, da bald die Entscheidung ansteht, ob Leon nächstes Jahr aufs Gymnasium gehen soll. Auch das Aufräumen seines Zimmers und andere Haushaltspflichten erledigt er meist nur noch nach vielfacher Erinnerung. Kein Zweifel: Ihr Sohn ist an chronischer Aufschieberitis „erkrankt“. Aber warum? Ist etwa ihre Erziehung schuld? Und was ist zu tun, damit sich dieses Verhaltensmuster wieder ändert?

Schnelles Einschreiten ist in jedem Fall empfehlenswert, meint der Psychologe und Buchautor Hans-Werner Rückert.

Er hat das Aufschiebeverhalten von Kindern und Erwachsenen untersucht und weiß: Ungeliebte Aufgaben liegen zu lassen ist ein Muster, das man sich regelrecht antrainieren – und leider nur schwer wieder abgewöhnen kann.

Doch natürlich ist deshalb nicht immer gleich Sorge angebracht. So ziemlich jeder könnte Tätigkeiten aufzählen, die er stets erst erledigt, wenn Druck von außen ihn dazu zwingt, sei es nun das Abgeben der Steuererklärung oder die Erledigung lästiger Haushaltsarbeiten. Nicht weiter schlimm – solange wir rechtzeitig und ohne allzu großen Leidensdruck die Kurve kriegen.

Artikelbild für den Artikel "Was tun gegen Aufschieberitis?" aus der Ausgabe 7/2022 von familie & co. Dieses epaper sofort kaufen oder online lesen mit der Zeitschriften-Flatrate United Kiosk NEWS.

Aufschieben ist auch Gewohnheitssache

Aufmerken sollte man, wenn die Aufschieberei den Alltag ins Schlingern bringt. Wenn Wichtiges nicht mehr in letzter Minute, sondern gar nicht mehr erledigt wird. Oder wenn die Qualität der Arbeit unter dem knappen Zeitmanagment leidet. Und wenn wir selbst uns schlecht und schuldig fühlen – so wie Leon, der über die „vergessenen“ Hausaufgaben mindestens ebenso unglücklich ist wie seine Mutter.

Doch warum hat er sie dann nicht einfach rechtzeitig gemacht? Eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt.

Denn für massives Aufschiebeverhalten ist in der Regel ein Bündel von Gründen verantwortlich. „Ein Grundproblem ist oft, dass Kinder noch nicht wissen, wie man sich organisiert. Sich Dinge vorzunehmen und dann auch in einer bestimmten Frist umzusetzen muss erst gelernt werden“, sagt Hans-Werner Rückert. Dabei ist selbstverständlich die Hilfe der Eltern gefragt. Aber auch die Schulen können etwas tun, meint der Psychologe und verweist auf vorbildliche Modelle in Schweden. Hier bekommen Grundschüler die Hausaufgaben oft für eine ganze Woche gestellt. Wann sie was erledigen, dürfen sie selbst entscheiden. So lernen sie schon früh, wie man sich Arbeit sinnvoll einteilt – und was dabei alles schiefgehen kann. Denn tatsächlich haben Kinder in den ersten Schuljahren naturgemäß ihre Probleme mit dem Zeitmanagement. Sie haben noch keine Vorstellung davon, wie lange sie für bestimmte Tätigkeiten brauchen werden. Auch das Strukturieren komplexer Aufgaben fällt ihnen schwer.

Vergleiche und Vorwürfe vermeiden

Wie Sie Kinder beim Kampf gegen das Aufschieben unterstützen können

• Rituale helfen beim Einhalten regelmäßiger Alltagspflichten. Zum Beispiel: Freitag ist Zimmeraufräumtag. Danach geht’s mit Papa ins Schwimmbad. Oder: Nach dem Mittagessen gibt es immer ein Viertelstündchen Pause, danach heißt’s: Hausaufgaben ahoi!

• Größere Aufgaben unterteilen – in viele kleine Einzelschritte. Gehen Sie z. B. gemeinsam mit Ihrem Kind seine Hausaufgaben durch und machen Sie ihm Mut: Englisch ist gar nicht so viel, das schaffst du in 20 Minuten. Und deine Mathe-Aufgaben hast du gestern auch gut hingekriegt!

• Ein Zeitplan hilft Ihrem Kind, wenn besonders viele Dinge zu erledigen sind. Besprechen Sie gemeinsam, wo die Prioritäten liegen und was zuerst angepackt werden sollte. Sehr lehrreich ist es für Kinder, mal zu beobachten, wie lange sie für welche Tätigkeit brauchen. Ermuntern Sie sie also ruhig zum Blick auf die Uhr. Hektik sollte dabei natürlich nicht aufkommen!

• Vorwürfe vermeiden: Wer etwas nicht rechtzeitig hinbekommen hat, fühlt sich meist ohnehin schlecht. Übermäßige Kritik facht nur die Angst an, beim nächsten Mal erneut zu versagen. Hilfreich ist Ursachenforschung und die Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten.

• Keine Vergleiche! „Dein Bruder schafft seine Aufgaben auch alleine!“ oder „Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester, die hilft immer beim Abwaschen!“ – diese Aussagen wirken entmutigend und demotivierend, vor allem auf jüngere Geschwister, die ohnehin oft das Gefühl haben, nicht mithalten zu können.

• Belohnungen in Aussicht stellen – das wirkt am besten. Vermeiden Sie Belohnungen während kurzer Arbeitsunterbrechungen, denn so wird das ständige Pausemachen förmlich antrainiert.

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Das zu bewältigende Pensum erscheint ihnen als ein einziger Berg von Arbeit.

Wie einfach es sein kann, ihn in vielen kleinen Einzelschritten zu überwinden, können und sollten Erwachsene Kindern zeigen. Es ist keine übertriebene Einmischung, wenn Eltern ihnen eine Zeit lang beim Organisieren des Tagesablaufes zur Seite stehen, öfter mal nachfragen, wie die Erledigung von Aufgaben vorangeht, und die eine oder andere Erinnerung aussprechen. Auch das Abschirmen vor zu viel Ablenkung kann eine sinnvolle Hilfestellung sein. Aber damit allein ist die leidige „Aufschieberitis“ noch nicht passé.

Angst vor Druck fördert die Aufschieberitis

Es lohnt ein Blick darauf, welche Tätigkeiten wir mit besonderer Vorliebe vor uns herschieben. Sind es die unangenehmen, etwas langweiligen Arbeiten, wie Geschirrabwaschen oder Staubsaugen? In der Regel nicht! Die Erfahrung zeigt: Besonders häufig weichen Groß und Klein jenen Aufgaben aus, von denen sie sich unter Druck gesetzt fühlen – weil sie schwierig zu erledigen sind oder weil ihre erfolgreiche Umsetzung besonders wichtig genommen wird. Bei manchen Menschen ist die Angst vor Druck sogar derartig ausgeprägt, dass sie absichtlich Erfolge vermeiden – nur um in der Zukunft nicht von zu hohen Erwartungen in die Enge getrieben zu werden.

Das Vertagen von wichtigen Tätigkeiten befreit uns zunächst aus der Drucksituation: Die Gefahr zu versagen ist gebannt – zwar nur vorerst, aber immerhin. Mittel- und langfristig hat das Aufschieben fast immer negative Effekte auf die Psyche. Denn wer etwas wissentlich zu spät erledigt, läuft meist mit Schuldgefühlen herum und ist deshalb angespannt und unkonzentriert. Oft leidet auch das Selbstwertgefühl: Man wirft sich vor, ein willensschwacher Mensch zu sein. Dazu kommt die unweigerliche Kritik von außen, falls wir einen Termin dann tatsächlich versäumt haben. Keine gute Voraussetzung, um die nächste wichtige Arbeit optimistischer anzugehen.

Mut machen – und nicht zu hart kritisieren

Doch warum wird die Angst vor dem Versagen überhaupt so übermächtig? „Niederlagen belasten uns, weil sie als schambehaftet erlebt werden – eine Sichtweise, die anerzogen ist“, sagt Rückert. „Schauen Sie sich ein Kind an, das laufen lernt. Es steht auf und fällt gleich wieder hin, immer wieder, ohne länger darunter zu leiden. Ihm fehlt die Erfahrung, dass Scheitern peinlich sein kann – also auch die Angst davor.“ Deshalb sei es wichtig, Kinder nicht zu hart zu kritisieren, wenn sie etwas versäumt oder nicht hinbekommen haben. Übertriebene Gelassenheit ist allerdings auch nicht angebracht: Sie wirkt auf den Nachwuchs nicht entlastend, sondern gleichgültig. Kinder wollen spüren, dass die Eltern ihre Belange wichtig nehmen – auch wenn das Kontrolle oder Kritik bedeutet. Es ist sogar möglich, dass sie absichtlich Termine versäumen, nur um zu testen, wie Mama oder Papa darauf reagieren. Aber: Wie sollte diese Reaktion denn im Idealfall aussehen?

Kehren wir zurück in die abendliche Küche, wo Leon noch immer Löcher in die Luft starrt, während seine Mutter sich innerlich gerade von der neuen Folge ihrer Lieblings-TV-Serie verabschiedet. Vorwürfe erspart sie ihm – und handelt damit richtig: Das schlechte Gewissen von Leon ist bereits groß genug. Falsch wäre aber, den Vorfall einfach durchgehen zu lassen. „Die Eltern sollten ruhig und bestimmt klarmachen, dass es in Zukunft eine Verbesserung geben muss, und Mut machen, dass diese auch gelingen wird“, rät Rückert. „Vermitteln Sie, wie viel Ihnen an der Erledigung bestimmter Arbeiten liegt. So fällt es Kindern leichter, sie ebenfalls ernst zu nehmen“, rät der Psychologe. Oft wirke auch der Anreiz einer Belohnung Wunder. Zumindest sollte sich der Nachwuchs auf ein dickes Lob freuen dürfen.

Bei dauerhaften Problemen sollten Sie gemeinsam mit Ihrem Kind den Gründen nachgehen. Gibt es etwas, das bei ihm Zukunftsängste oder Verunsicherung auslöst? Fühlt es sich zu wenig umsorgt und sucht Aufmerksamkeit? Ist eine ungute Konkurrenzsituation unter Geschwistern schuld?

In Leons Fall stellt sich bei einem Gespräch am nächsten Tag heraus, dass der anstehende Schulwechsel ihn belastet. Er hat Angst, auf dem Gymnasium nicht mithalten zu können, vor allem in Mathe. Deshalb weicht er jeder Berührung mit dem Fach aus und wird dabei immer mutloser, auch was andere Aufgaben angeht. Zum Glück gibt es gegen die Alltags-Verschieberitis viele gute Tricks (s. Kasten S. 5). Mit deren Hilfe werden es Leons Eltern bestimmt schaffen, ihm seine Sorgen zu nehmen.

INTERVIEW

Aufschieben hat durchaus sein Gutes

Zeitdruck kann kopflos machen – oder effektiv und kreativ. Psychologin Dr. Angelika Faas über die positiven Aspekte des Aufschiebens

familie&co: Manche Menschen erledigen Wichtiges erst zum spätmöglichsten Termin, oft unter Zeitdruck. Was ist daran gut?

Angelika Faas: Als Kind wurden wir immer mit Weisheiten à la „Was du heute kannst besorgen …“ belehrt.

Als sei es besonders edel, alles sofort wegzuschaffen. Wer sagt, dass es verwerflich ist, Dinge erst am letztmöglichen Termin zu erledigen?

Ich glaube, dass ein solcher moralischer Zeigefinger für Kinder nicht hilfreich ist. Sie sollten ohne unnötige Schuldgefühle lernen, ein eigenes Zeitmanagement zu entwickeln.

Und: Eine „innere Bremse“, die uns dazu bringt, Dinge warten zu lassen, hat oft ihre Berechtigung. Sie bewahrt uns davor, kopflos in Hektik zu verfallen. Während die Arbeit scheinbar unbeachtet herumliegt, können wir uns innerlich damit beschäftigen.

Vermutlich wird das Ergebnis dadurch sogar manchmal besser.

Hilft Zeitdruck uns tatsächlich dabei, uns besser zu konzentrieren? Auf jeden Fall hilft er dabei, Prioritäten zu setzen. Unter Zeitdruck sind wir weniger anfällig für Ablenkungen. Angesichts wirklich knapper Zeit ist man nicht versucht, sich einen Kakao zu machen oder mit der besten Freundin zu telefonieren.

Es kann aber auch passieren, dass wir den Kampf gegen die Zeit verlieren und Dinge unerledigt bleiben …

Das hat aber oft sogar seine guten Seiten! Wer auch mal was vermasselt, schützt sich damit vor übertriebenen Erwartungen. Wer hingegen immer alles irgendwie hinkriegt, stellt fest, dass seine Umwelt das bald für selbstverständlich hält – und einfach die Anforderungen immer weiter hochschraubt.

Für manche Menschen scheint Zeitdruck ja wie ein positiver Kick zu wirken. Womit hängt das zusammen?

Eigentlich ist es doch das Schlimmste, wenn unsere Umwelt uns gleichgültig gegenübersteht, wenn niemand sich dafür interessiert, ob wir etwas erledigen und wann. Kinder, die von ihren Eltern maßvoll gefordert werden, empfinden das vordergründig vielleicht als unangenehm. Es gibt ihnen aber das Gefühl, geliebt zu werden und wichtig zu sein. Sie merken: Jetzt kommt es auf mich an!

Außerdem kennt jeder die Euphorie, die sich einstellt, wenn wir etwas im letzten Moment noch geschafft haben. Auf eine solche Leistung sind wir meist besonders stolz und fühlen uns dadurch unangreifbar und so richtig lebendig.

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