Mithilfe des Konzeptes der Entwicklungsaufgaben lässt sich anschaulich demonstrieren, in welcher Weise sich die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie auf die Bewältigung aller dieser Entwicklungsaufgaben, die untereinander in enger Beziehung und Wechselwirkung stehen, ausdrücken:
■ Durch den eingeschränkten Schulbetrieb leiden das Training der Basisqualifikationen Lesen, Rechnen und Schreiben und das fachliche Lernen; die kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten werden unzureichend gefördert; die schulischen Leistungen sinken ab.
■ Eine unbefangene und selbstgesteuerte Entwicklung von Kontakten zu Freunden und Gleichaltrigen ist nicht möglich; das Einüben und Praktizieren sozialer Umgangsformen wird stark gestört; die Ablösung von den Eltern verzögert sich.
■ Das Freizeit-und Konsumverhalten ist weitgehend auf digitale Kanäle eingeschränkt; Kinder und Jugendliche sind zwar digital affin, jetzt aber werden Smartphone und Laptop fast zur einzigen Verbindung zur sozialen Welt, und das blockiert die Verknüpfung verschiedener Sinnesund Resonanzempfindungen.
■ Die Entwicklung einer Wert-und Lebensorientierung ist erschwert, das soziale und politische Engagement nur begrenzt möglich, wodurch soziale Selbstständigkeit und demokratische Grundtugenden nicht entfaltet werden können.
AGGRESSIVE, REGRESSIVE UND EVASIVE VARIANTEN VON ENTWICKLUNGSSTÖRUNGEN NEHMEN ZU
Folgen wir der Sozialisationstheorie, dann ist eine solche Anhäufung von Defiziten bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben für Kinder und Jugendliche nicht lange zu ertragen. Das liegt auch daran, dass ein Versagen bei einer der Entwicklungsaufgaben in der Regel negativ auf die Möglichkeit ausstrahlt, eine andere Entwicklungsaufgabe zu bewältigen. Fällt ein Schüler oder eine Schülerin zum Beispiel im Leistungsbereich zurück, kann das unmittelbar negative Folgen für die Kontaktgestaltung mit Gleichaltrigen haben, zu einem unkontrollierten Umgang mit Videofilmen oder dem Interesse an rechtspopulistischen Positionen führen. Kommen mehrere solche Defiziterfahrungen zusammen, suchen diese Kinder und Jugendlichen nach einem Ausweg. Sie greifen zu problematischen Verhaltensweisen, zu kompensatorischen Strategien, mit denen sie die Aufmerksamkeit ihrer Umwelt erzielen wollen. Idealtypisch lassen sich dabei drei Varianten solcher Hilfe suchenden Kompensationsstrategien unterscheiden (Hurrelmann/Quenzel 2016, S. 222):
■ die aggressive Variante, die sich in Gestalt von Hyperaktivität, Konfliktverhalten und psychischer und körperlicher Gewalt ausdrückt. Der große Entwicklungsdruck, der sich zum Beispiel durch das Zurückfallen bei den Schulleistungen, den Mangel an Sozialkontakt, die übermäßige Nutzung von Smartphone und Laptop, das Defizit an körperlicher Bewegung und die Verschlechterung des Schlaf-Wach-Rhythmus aufbaut, wird nach außen abgeführt.
■ die regressive Variante, die sich in Sorge und Abgeschlagenheit bis hin zu Depression und suizidaler Stimmung niederschlägt. Bei dieser Variante wird der Entwicklungsdruck der eigenen Psyche angelastet.
■ die ausweichend-fluchtartige Variante, die sich zum Beispiel im gestiegenen und unkontrollierten Konsum von Drogen oder Medikamenten oder der pathologisch häufigen Mediennutzung niederschlägt.
Alle drei Varianten führen die Kinder und Jugendlichen auf unproduktive Wege der Problemverarbeitung und können die weitere Persönlichkeitsentwicklung sowohl im Leistungsbereich als auch in der körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung stark beeinträchtigen. Aktuelle Studien zeigen, dass infolge der Einschränkungen des Schulbetriebs während der Corona-Pandemie tatsächlich alle drei dieser Störungsformen deutlich häufiger geworden sind (Dohmen/ Hurrelmann 2021): Sowohl das aggressive Verhalten als auch psychische Störungen und suchtartige Verhaltensmuster treten vermehrt auf. Nicht nur der Abfall der Leistungen ist also zu beklagen, sondern auch damit einhergehende Defizite der gesamten Persönlichkeitsentwicklung.
Die Schulen nur darin zu unterstützen, die Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen durch gezieltes Training und präzisere Tests zu stärken, ist nicht ausreichend.
VIER PÄDAGOGISCHE STRATEGIEN ZUM AUSGLEICH DER BENACHTEILIGUNGEN
Welche Möglichkeiten haben Schulen, die besonders benachteiligten Kinder und Jugendlichen beim Ausgleich der Defizite zu unterstützen? Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus insbesondere für Schulen in herausfordernder Lage? Wie kann es ihnen gelingen, die coronageschädigten Kinder und Jugendlichen zu ermutigen und zu stärken? Folgen wir den oben vorgestellten inhaltlichen Linien der Sozialisationstheorie, dann ergibt sich als erste pädagogische Strategie:
Die Schule sollte zu einer Bildungsstätte werden, die ihre Schülerinnen und Schüler in allen Entwicklungsaufgaben unterstützt.
Wenn unter dem Eindruck der Entwicklungsrückstände durch die Corona-Pandemie einseitig nur auf die Leistungsförderung gesetzt wird, dann wird dabei übersehen, wie stark die Entwicklungsaufgabe »Bilden und Qualifizieren« in die drei anderen Entwicklungsbereiche eingebunden ist. Gute Leistungen können Kinder und Jugendliche nur bringen, wenn auch die sozialen Lebensbedingungen stimmen, die psychische Gesundheit ausgeglichen ist und die Einbindung in den Freundeskreis und die gesellschaftliche Umwelt gelingt. Deswegen sollte eine Schule die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen nicht nur intellektuell und kognitiv qualifizieren, sondern zugleich auch auf das soziale Leben, den Konsum-und Wirtschaftssektor, die Mediennutzung und die gesellschaftliche Partizipation vorbereiten. Nur so wird sie auch den Anforderungen gerecht, vor denen die Angehörigen der jungen Generation heute stehen – besonders in den schwierigen Zeiten im »Corona-Modus«.
Die Schulen einseitig nur darin zu unterstützen, die Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen durch gezieltes Training und präzisere Tests zu stärken, ist nicht ausreichend. Das Aufholpaket von Bund und Ländern sendet durch die Förderung von außerschulischen Angeboten sowie der Stärkung sozialer Kompetenzen in der Schule, beispielsweise durch gestärkte Schulsozialarbeit, ein wichtiges Signal. Dieses Signal darf nicht durch eine zu starke Fokussierung auf den Abbau von Lernrückständen verdrängt werden. Gerade heute, in einer Gesundheitskrise epochalen Ausmaßes, sollten Schulen in der Lage sein, das gesamte Spektrum von sozialen Kompetenzen – einschließlich der emotionalen, kommunikativen, kreativen und interaktiven Fähigkeiten – zu stärken, zumal sie oft ja erst die Voraussetzung dafür sind, Leistung erbringen zu können. Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien können hiervon ganz besonders profitieren.
Die beiden Autoren dieses Beitrags setzen sich seit Jahren für einen solchen Paradigmenwechsel der pädagogischen Arbeit in den Schulen ein. Dabei unterstützen sie auch außerschulische Akteure. So bietet die Stiftung der Deutschen Lions mit »Lions-Quest« bereits seit 30 Jahren Schulungen für Lehrkräfte an, in denen gezielt die Stärkung sozialer, emotionaler und kommunikativer Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund steht. Die Lions-Quest-Programme »Erwachsen werden« und »Erwachsen handeln« sind die meistgenutzten Lebenskompetenzprogramme in Deutschland. Einen etwas anderen Zugang bietet der ChangeWriters e. V. mit dem Einsatz erprobter Methoden für mehr Wertschätzung im Unterricht, gelingende Beziehungsarbeit und Selbstwirksamkeitsstärkung, zum Beispiel durch Tagebuchschreiben (Fichtner/Dzeik 2019a, b). Programme mit diesem Zuschnitt können Schulen in schwierigen Einzugsbereichen helfen, die persönlichen und sozialen Schlüsselkompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu stärken und dadurch Entwicklungsstörungen vorzubeugen. Wie die Nachfrage nach Lions-Quest-und ChangeWriters-Fortbildungen zeigt, ist der Bedarf an konkreten Inspirationen und Methoden zur Förderung von sozialen und emotionalen Fähigkeiten hoch. Das Thema wird im oft zu fachlich orientierten Lehramtsstudium immer noch vernachlässigt und findet keinen Raum in den ohnehin überfrachteten Lehrplänen. Dies sollte sich dringend ändern.
Der Unterricht sollte so ausgerichtet sein, dass er Eigenaktivität und Selbstwirksamkeit fördert.
Als zweite Strategie lässt sich ableiten:
Inhalte und Formen der schulischen Bildung sollten so ausgerichtet sein, dass sie Kinder und Jugendliche ermutigen, sich aktiv mit ihrer alltäglichen Lebenswelt auseinanderzusetzen. Deshalb sollten die Ansätze der digitalen Lernarbeit gefördert und die Lehrpläne aktualisiert werden.
Die teilweise unzureichende Reaktion der Schulen auf die Auswirkungen der Pandemie hat die empfindlichen Lücken und Defizite im Bereich des digital unterstützten Lernens deutlich gemacht. Das gilt besonders für Schulen in schwierigen Einzugsbereichen. Gerade sie waren auf den Einsatz von digitalen Geräten und Formen der Online-Kommunikation nicht vorbereitet, und das hat – wie oben dargestellt – erheblich mit dazu beigetragen, dass die Kinder und Jugendlichen an diesen Schulen in ihrer gesamten Entwicklung stark zurückgefallen sind. Die damit unterschwellig an die junge Generation vermittelte Botschaft war und ist verheerend: In allen Lebensbereichen bereitet sich die Gesellschaft mit großer Intensität auf die digitale Transformation vor, aber ausgerechnet im Bildungssektor wird sie verschlafen oder sogar abgelehnt. 2019 war noch ein großer Teil der Lehrkräfte, einer Einschätzung von beteiligten Schülerinnen und Schülern der McDonalds-Ausbildungsstudie zufolge, nicht ausreichend in der Lage, die Arbeitsweise digital umzustellen (McDonalds Deutschland 2019, S. 55). Das hat zu einem beträchtlichen Autoritätsverlust der Schulen und der Lehrkräfte beigetragen.
Es hat sich seither zwar einiges im Bereich der digitalen Ausstattung, Unterrichtsentwicklung und Professionalisierung getan, doch wäre es ein falsches Signal, sich auf dem Status Quo auszuruhen. Es gilt, das digitale Arbeiten in allen Lernbereichen aktiv zu fördern, so wie es die Kultusministerkonferenz bereits 2016 in ihrem richtungweisenden Papier »Bildung in der digitalen Welt« (KMK 2016) fordert: Die Vermittlung digitaler Kompetenzen soll zum integrativen Bestandteil aller Fächer werden, im Unterricht soll eine neue Kulturtechnik in Gestalt eines kompetenten Umgangs mit digitalen Medien Einzug halten, welche die traditionellen Techniken Lesen, Schreiben und Rechnen ergänzt und für alle Lebensbereiche von Relevanz ist. Die Schülerinnen und Schüler, die von Kindesbeinen mit digitalen Medien groß geworden sind, sollten an dieser Entwicklung aktiv beteiligt werden, um eigene Ansätze mit einzubringen.
Auch inhaltliche Defizite in den Lehrplänen wurden während der Corona-Pandemie offensichtlich. Das gilt in erster Linie für den Gesundheitsbereich. Alle Kinder und Jugendlichen, besonders aber die an Schulen in benachteiligten Quartieren, würden von einem regulären Gesundheitsunterricht sehr profitieren, in dem sie sich theoretisch und praktisch mit guter Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung befassen. Ergänzend könnten konkrete Aktivitäten unter Beteiligung der Kinder und Jugendlichen stehen. Denkbar wären zum Beispiel eine Erste-Hilfe-Station in den Schulen, der Anbau und die Verarbeitung von Lebensmitteln aus einem Schulgarten, Achtsamkeitstrainings und Tagebuchprojekte, um die psychische Gesundheit durch Selbstreflexion zu pflegen.
Ein zweiter inhaltlicher Defizitbereich ist die Vermittlung von Wirtschafts-und Finanzkompetenzen. Die Pandemie hat die ohnehin schon sozial benachteiligten Familien wirtschaftlich noch einmal sehr geschwächt. Schülerinnen und Schüler würden besser mit der Situation zurechtkommen, wenn sie die Grundbegriffe ökonomischen Handelns und Haushaltens inklusive der Ansätze des Konsumenten-und Verbraucherschutzes kennen würden. Deshalb sollte gerade jetzt die Chance genutzt werden, die Förderung der Wirtschafts-und Finanzkompetenz in den schulischen Unterricht zu integrieren. Ebenso wie im Bereich Gesundheit sollte der Unterricht so ausgerichtet sein, dass er Eigenaktivität und Selbstwirksamkeit fördert und den Kindern und Jugendlichen Wege aufzeigt, wie sie aus der durch die Pandemie erzeugten Ohnmacht der verloren gegangenen Selbstkontrolle heraustreten können. Das kann zum Beispiel durch Schülerfirmen ermöglicht werden, die Produkte herstellen, verkaufen oder Dienstleistungen liefern, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule – etwa durch eine Cafeteria, einen IT-Service, ein Filmteam oder eine Event-Agentur, durch Vorlese-oder Theaterprogramme.
Um all das umzusetzen, brauchen die notorisch überforderten Kollegien gezielte Hilfe und Unterstützung. Das führt zur dritten Strategie:
Lehrerinnen und Lehrer sollten heute Talentscouts sein und Lebenskompetenzen stärken.
Sowohl Schulleitungen als auch Lehrkräfte brauchen eine gezielte und verpflichtende, permanente Beratung und Begleitung bei der Neuausrichtung ihrer professionellen Rollen.
Welche entscheidende Rolle Schulleitungen nicht nur für jede einzelne Schule, sondern für die gesamte Schülerschaft und die Elternschaft und auch den kommunalen Raum spielen, hat sich während der Corona-Pandemie so deutlich wie selten zuvor gezeigt. Ebenfalls deutlich wurde, wie alleingelassen die Schulleitungen bei ihren vielfältigen Aufgaben sind. Deswegen ist es jetzt an der Zeit, den gesamten Prozess der Beratung und Begleitung jeder Einzelschule zu aktivieren und neu aufzustellen. Die bereits bestehenden Ansätze für Schulinspektionen sollten durch ein professionelles Coaching für Schulleitungen ergänzt werden.
Für die Lehrkräfte sind gezielte Aktivitäten notwendig, um eine fachliche Fortbildung verbindlich oder sogar verpflichtend zu machen. Eine solche bedrückende Konstellation wie zu Beginn der Pandemie, als mit der zeitweisen Schulschließung bei der Umstellung auf digitalen Unterricht deutlich wurde, dass etwa 40 Prozent der Lehrkräfte hierfür nicht die geringsten Voraussetzungen hatten, darf sich nicht wiederholen. Es gehört mit zur Verpflichtung der Schulträger, das Lehrpersonal inhaltlich, didaktisch und technisch auf den jeweils aktuellen Stand zu bringen. Das wurde sträflich versäumt.
Die Förderung digitaler Kompetenzen ist auch deswegen sehr ernst zu nehmen, weil sich in der digitalen Welt die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer spürbar verändert. Sie sind bei der Beschaffung und Vermittlung von Wissen den Schülerinnen und Schülern nicht mehr automatisch überlegen. Bildungsprozesse sind in einer demokratischen Kultur heute ohnehin weniger hierarchisch angelegt als in früheren Zeiten. Die Lehrkraft bleibt wichtig, weil sie einschätzen kann, was ein Kind oder Jugendlicher kann und was nicht, wo Überforderung droht und Hilfe benötigt wird. Aber sie ist nicht mehr nur »Stoffvermittler«, sondern immer stärker auch Unterstützer und Begleiter von Bildungsprozessen.
Lehrerinnen und Lehrer sollten heute vielmehr Talentscouts sein und Lebenskompetenzen stärken. Deshalb müssen sie mehr Beziehungsarbeit leisten als früher. Es geht darum, die Kinder und Jugendlichen in ihrem Umfeld zu sehen, sie ernst zu nehmen, sie zu fragen, wie es ihnen geht, und auf die Antworten einzugehen, erreichbar zu sein. Während der Corona-Pandemie wurde deutlicher denn je: Viele Lehrende kennen ihre Schülerinnen und Schüler und deren Lebenssituationen nicht wirklich. Die simple Frage »Wie geht es dir?« und das Interesse an der Antwort, auch in schriftlicher Form als Tagebucheintrag, kann eine ganze Bildungsbiografie verändern, wie Erfahrungsberichte aus dem bereits erwähnten Change-Writers-Programm zeigen (Fichtner/Schimkat 2019). Lehrende und Lernende müssen sich als Menschen sehen und immer wieder neu kennenlernen, um nicht in einer entfremdeten Beziehung als »Pauker« und »Störenfried« stecken zu bleiben (Rosa/Endres 2016). Gerade »schulmüde« Kinder und Jugendliche brauchen die Erfahrungen gelingender Beziehungsarbeit. Die Beziehung zwischen Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften festigt sich auch außerhalb des regulären Fachunterrichts, wenn Kinder und Jugendliche ihre Lehrkräfte als »normale Menschen« kennenlernen und Zeit miteinander verbringen. Ist die Beziehung da und gefestigt, funktioniert auch der Fachunterricht in der Regel reibungsloser. Damit sind wir bei der vierten und letzten Strategie:
Den vielfältigen pädagogischen Herausforderungen kann eine Schule dann besser gerecht werden, wenn sie Bestandteil eines Bildungscampus ist.
Weil es für die Angehörigen der jungen Generation heute notwendig ist, ein hohes Ausmaß von Selbstständigkeit zu entwickeln, um mit den komplexen Entwicklungsaufgaben zurechtzukommen, brauchen sie eine Schule, die sie dabei unterstützt. Es sollte – im Bilde gesprochen – eine Schule mit einer unverwechselbaren »Schulpersönlichkeit« und starker Autorität sein, an der sie sich orientieren und reiben können. Die beste Voraussetzung dafür ist ein hoher Grad an Selbstständigkeit in der Programmgestaltung und der Personalauswahl, und das ist nur möglich, wenn die Schulleitung stark und unabhängig agieren kann. Nur eine solche Autonomie macht es jeder einzelnen Schule möglich, auf die jeweiligen Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen gezielt einzugehen.
Besonders die sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen profitieren von einem Schulalltag, der durch feste Rituale gegliedert ist und dem biologischen Rhythmus und der Aufmerksamkeitsspanne aller Beteiligten gerecht wird. Ziel ist ein Wechsel zwischen konzentriertem und aktivem Arbeiten mit Entspannungs-und Kreativphasen. Dazu bedarf es einer Vielfalt von Unterrichtsformen – einer Mischung aus Frontal-und Teamunterricht, Gruppenarbeit, selbstständiger Freiarbeit, Projektarbeit, Hausaufgaben, Forschungsarbeit mit Experimenten und außerschulischer Arbeit. Mit dem Unterricht verzahnt sollte in Werkstätten und Labors experimentiert, produziert, innovativ und schöpferisch gestaltet werden.
Eine Schule sollte im Idealfall von den Schülerinnen und Schülern als eine regelgeleitete und gerechte Gemeinschaft wahrgenommen werden. Entscheidend sind die klaren und festen Regeln für den Umgang miteinander: Welche Verhaltensweisen gelten als angemessen und welche nicht? Was gilt als pünktlich, als ordentlich, als diszipliniert? Hierzu müssen konkrete Vorschläge ausgearbeitet und auch mit der Elternschaft abgestimmt werden. So kann Schule ein zuverlässiger und sicherer sozialer Raum werden, zu dem die Kinder und Jugendlichen ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Das ist möglich, wenn die Schülerinnen und Schüler diesen Raum als gestaltbar erleben, also Einfluss auf die Ausstattung und die Nutzungs-und Umgangsformen haben. Dann entsteht eine klare Struktur im schulischen Alltag, die man zu Hause mitunter nicht hat, die Orientierung und Sicherheit gibt und es ermöglicht, sich in diesem festen Rahmen aktiv und frei zu verhalten. Auf dieser Basis kann Selbstwirksamkeit erlebt werden.
Zu einem Bildungscampus wird eine Schule, wenn auf ihrem Gelände Angebote des Quartiers präsent sind, von solchen aus Sozialarbeit und -pädagogik, über Therapie und Pflege, Sportvereine, Theatergruppen und Volkshochschulen bis hin zu Initiativen aus Kunst und Wirtschaft. Auf diese Weise halten sich auf dem Campus nicht nur Lehrkräfte auf, sondern auch professionelle und Laienkräfte aus anderen gesellschaftlichen Bereichen. In dieses Campus-Modell sind selbstverständlich auch die Elternhäuser miteinbezogen. Die Corona-Pandemie hat ja gezeigt: Die Familien sind zwar nach wie vor die wichtigste Erziehungs-und Bildungsinstitution, aber sie können ihre Aufgabe ohne die professionelle Bildungsinstitution Schule nicht erfüllen. Und umgekehrt: Wenn Mütter und
Väter nicht in geeigneter Weise in den Ablauf der schulischen Arbeit einbezogen und über die pädagogischen und didaktischen Prinzipien dieser Arbeit informiert werden, leidet der Bildungserfolg ihrer Kinder beträchtlich. Ein Bildungscampus bietet hierfür ideale Anknüpfungspunkte. ◆
Literatur
Dohmen, D./Hurrelmann, K. (Hrsg.) (2021): Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden. Weinheim/Basel.
Fichtner, S./Dzeik, S. (2019a): ChangeWriters Methoden: Schüler- Innen Feedback/ChangeWriters Methoden: PädagogInnen im Gespräch. www.changewriters.de [Filmclips].
Fichtner, S./Dzeik, S. (2019b): ChangeWriters macht Schule. [Langfilm] Link auf Anfrage.
Fichtner, S./Schimkat, H. (2019): Durch gelingenden Beziehungsaufbau Schule verändern? Eine explorative Studie zur Implementation des ChangeWriters-Ansatzes an Schulstandorten.
https://inib-berlin.de/images/doc/ChangeWriters_Studie_Abschlussbericht_ 2019.pdf (22.12.21).
Hurrelmann, K./Bauer, U. (2020): Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim/Basel.
Hurrelmann, K./Quenzel, G. (2016): Lebensphase Jugend. Weinheim/ Basel.
KMK (2016): Bildung in der digitalen Welt. www.kmk.org/themen/ bildung-in-der-digitalen-welt./ (22.12.21).
McDonald’s Deutschland (2019): Kinder der Einheit. Ausbildungsstudie. Düsseldorf.
Rosa, H./Endres, W. (2016): Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim/Basel.
DR. KLAUS HURRELMANN ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School – University of Governance Berlin.
hurrelmann@hertie-school.org
DR. SARAH FICHTNER ist Senior Researcher und Projektleiterin am Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) Berlin.
s.fichtner@fibs.eu