... weil man generell nicht mehr viel zu sagen hat, in der Familie sowieso nicht, und bei den vielen neumodischen Dingen fehlt einem schlicht der nötige Durchblick. Statt den jungen Leuten den Marsch zu blasen, muss ich die Klappe halten und am Laptop demütig ihre Belehrungen über mich ergehen lassen. Ihre unbeholfenen Erklärversuche prallen an mir ab.
Doch auch wenn ich den Mund nicht aufbekomme, ist die Kommunikation nicht am Ende. Es gibt ja noch ein Hintertürchen. Unterhalb der Lendenwirbelsäule. Dort ist, obwohl ich es partout nicht will, einiges zu vernehmen. Ich sage nur: der Pförtner. Er ist mit den Jahren müde geworden und versieht seinen Dienst am Ausgang ziemlich nachlässig. Hat er früher höchstens mal zur Belustigung des Publikums einen fahren gelassen, so passiert das mittlerweile auch ohne Auflassung (bzw. wegen leichtfertigen Auflassens). Ich habe nichts damit zu tun, es geschieht vollkommen unabhängig von mir, unkontrolliert und meist im unpassenden Augenblick.
Es wäre auszuhalten, ginge es dabei leise zu wie bei einem Elektromobil. Leider handelt es sich aber um einen Verbrenner, der geräuschvoll wie ein Turbodiesel Abgase ausstößt. Mit einem hohem Anteil an Methan, das weit umweltbelastender ist als das berüchtigte Kohlendioxid.
Natürlich möchte ich auf meine alten Tage nicht auch noch als Klimaschädling gebrandmarkt werden. Deshalb schiebe ich jedem unverhofften rückwärtigen Räuspern hastig ein lautes Hüsteln hinterher, immer in der Hoffnung, die Geräusche mögen in den Ohren der Umstehenden in eins zusammenfließen und keinen schnüffelnden Verdacht auslösen. Es ist wie im »Tatort«: Spuren verwischen ist angezeigt.
Auch an anderer Stelle. Viel häufiger als früher bin ich neuerdings mit Fleckentfernern unterwegs. Das kann man wörtlich nehmen: In Hosen- und Jackentaschen führe ich in der Regel ein Sortiment diverser Reiniger mit, einzusetzen gegen Öl und Fett, Obst-, Rotwein- oder Gemüseflecke. Zwar weigere ich mich, das mit dem hohen Alter in Verbindung zu bringen, aber die Vorfälle haben enorm zugenommen, dauernd bin ich der Bekleckerte. Der Angeschmierte sowieso. Ich kann vom Glück reden, dass ich den Schaden meist früher entdecke als meine Frau.
Andere Defizite lassen sich mit weniger Aufwand unter der Decke halten. Hört man schlecht und versteht in geselliger Runde so gut wie nichts, lacht man einfach mit den anderen mit. Lachen ist gesund, der Anlass unwichtig. Oder − noch besser − man übernimmt selbst die Gesprächsführung. Dann müssen die zuhören, die es noch können. Von den jungen Leuten kommt höchstens mal die Bitte, nicht so laut zu reden, aber bremsen lasse ich mich nicht. In aller Ausführlichkeit erzähle ich ihnen, wie wir nach dem Krieg mit Lebensmittelmarken einkaufen gegangen sind oder in der DDR selbst für die gebrechliche Oma, den dementen Opa eine Trabant-Anmeldung ertrickst haben, um die Wartezeit auf ein Auto zu verkürzen. Hochspannende Geschichten. Alle sind begierig danach. Wenn ich aufhöre, dann sagen sie oft: »Na, Gott sei Dank! Wieder was gelernt!« Das sind für mich Momente inniger Freude.
Probleme habe ich mit den Augen, sie sind nicht mehr das, was sie mal waren. Der Grüne Star hat mir das räumliche Sehen geraubt. Wenn ich zum Beispiel, statt zuzupacken, ins Leere greife, lässt sich das meist mit einem schnellen zweiten Versuch überspielen. Und gieße ich beim Mittagessen die Soße neben den Teller, habe ich immer ein entschuldigendes Wort parat: war abgelenkt, zerstreut, mit den Gedanken woanders. Ein netter Witz, ergänzt durch einen Wischlappen, hilft über das Dilemma hinweg.
Man sollte denken, Spuren zu verschleiern falle besonders leicht, wenn man keine hinterlässt. Das stimmt nicht immer. Meine Vergesslichkeit beispielsweise sieht mir kein Fremder an, wenn ich aus dem Supermarkt komme, meine Frau aber erfasst es sofort: Die Zigaretten fehlen! Statt ihr mit gesundheitlichen Argumenten auf die Nerven zu gehen und das Vergessen zur liebevollen Absicht umzudeuten, mache ich lieber kehrt und gehe noch mal los. Dumm ist nur, wenn ich dann im Markt hilflos vor den Regalen stehe und nicht mehr weiß, was ich besorgen wollte. Ähnliches ist mir neulich widerfahren. Ich war im Keller gelandet, hatte aber keine Ahnung, warum. Wollte ich was erledigen? Nach den Vorräten sehen? Was holen? Frisches Obst, Milch, Konserven, Feinfrost aus dem Tiefkühlschrank? Ich schaute die Gegenstände an, sie blickten teilnahmslos zurück.
Während ich noch grübelte, kam die Enkelin die Treppe runter und staunte: »Nanu, was machst du denn hier?« »Das könnte ich dich auch fragen.« »Ich suche Rotkohl.«
Richtig, Rotkohl! Wie konnte ich das vergessen! War doch ein klarer Auftrag meiner Frau. Schnell griff ich ein Glas und gab es meiner Enkelin. Nur um den Anschein zu wahren, noch anderes erledigen zu müssen, blieb ich danach eine Weile im Keller − und hasste mich.
Ja, Wut auf mich selbst, auf mein löchriges Gedächtnis befällt mich oft. Mitunter treffe ich einen Bekannten, rede mit ihm, erinnere mich aber nicht, wie er heißt und was ich jemals mit ihm zu tun hatte.
Es macht mich verrückt und bringt mein Testosteron zum Kochen. Gewaltfantasien steigen auf, ich könnte mich glatt vergessen und kräftig hinlangen. Aber nein, einem anderen Gewalt anzutun liegt mir nicht, gegen mich selber aber halte ich eine Tat im Affekt für durchaus möglich, besonders nach Blackouts, die mich dumm dastehen lassen.
Gerade habe ich ein Interview gelesen, in dem ein Psychologe erklärte, nicht nur psychisch Kranke und Berufsverbrecher, auch völlig normale Menschen (wie ich!) könnten im Affekt zum Mörder werden.
In meinem Fall hieße es: zum Selbstmörder.
Ich zögere noch. Dass es mir danach besser ginge, kommt mir unwahrscheinlich vor.
JÜRGEN NOWAK ZEICHNUNG: PETER MUZENIEK
(Von Jürgen Nowak zuletzt erschienen: »Hey, Alter! – Ruhestand im Selbstversuch«, 220 S., 15,90 Euro. Erhältlich: www.eulenspiegel-laden.de oder info@enno-verlag.de)