... abseits der Bühne erlebt man bei Treffen mit Anna Netrebko Szenen mit einer gewissen Dramatik – fast wie in der Oper. Dabei waren Primadonnen immer schon Objekte der Vergötterung, man duellierte oder erschoss sich für sie, spannte ihnen die Pferde aus und zog selbst die Kutsche. Journalisten zeigen sich geradezu berauscht von der bald 50-jährigen Netrebko mit ihren „glockenreinen“, „laser-perfekten“ Spitzentönen (Spiegel) und feiern ihre „Stimme aus diamantbesticktem Samt“ sowie deren „dramatische Intensität“ (FAZ). Komplimente kümmerten Netrebko nie wirklich, mitunter tat sie sie sogar als „Bullshit“ ab. „Von zehn Auftritten sind zwei spitze“, konstatierte sie einmal mit der Nüchternheit einer Perfektionistin.
MIT PELZ, PONCHO UND SAHNE-EISBECHER
Bunt wie ein Kindergeburtstag sind auch Anna Netrebkos Auftritte auf ihren Social-Media-Kanälen. Zu sehen: eine Instagram-Oper mit rund 700.000 Followern. Mit schwarzem Hut und dramatisch roter Feder neulich bei den Bocellis, vor dem Sahne-Eisbecher mit ihrer Schwester im „most expensive coffeeshop“ von Venedig. Im Pelz durch die Innenstadt von Moskau und im Inka-Quechua-Kostüm zwischen Kakteen in Peru. Mit Poncho und Hotpants im Burger-Restaurant und dann am Dirigentenpult. Sie küsst, flirtet und witzelt gerne auf den Internetplattformen. „Russischer Humor ist dreckig, düster, manchmal sehr derb“, sagt sie. Oft in ihrem Schlepptau: der aserbaidschanische Tenor Yusif Eyvazov, den sie 2015 in Wien heiratete – mit Barockfeuerwerk, versteht sich. 2.250 Effektschüsse, 200 Lichterlanzen, 40 Feuertöpfe und 30 Feuerwerks-Vulkane wurden im Palais Liechtenstein gezählt.
Aus dem It-Girl der Opernwelt ist längst eine reife Künstlerin geworden, die den „Schwachsinn über die ‚Sexy Diva‘ nicht mehr lesen“ mag. Die Zeit der süßen Mädels, der keuschen Paminas, somnambulen Aminas von Bellini, todkranken Mimis („La Bohème“) und Violettas („La Traviata“) ist vorbei. Heldinnen, „die nur schmachten“, findet sie ohnehin öde. Seit einigen Jahren sei sie auf dem Weg zur „hässlichen Stimme“, zur hochdramatischen – wie einst die Callas, die selbst nie „schön“ sang. Um den Thron der Primadonna assoluta zu verteidigen, braucht es amoralische Prophetenmörderinnen wie Salome von Richard Strauss und die vokalen Schwergewichte Verdis. So etwas wie die wahnsinnige Lady Macbeth, die sich Verdi „hässlich und böse“ wünschte, mit „rauer, erstickter, dumpfer Stimme“. Das ist metaphorisch gemeint, doch Netrebko hat verstanden. In vielen Verdi- Partien hat sie bereits bewiesen, dass sie ihre Stimme schwarz düster flackern lassen kann. Nun steht eine weitere Opernmegäre an, die vor Eifersucht rasende und in Angst sich verzehrende Floria Tosca von Puccini, die sie bei den Salzburger Festspielen verkörpert. Tragen wird sie dabei ein Kleid aus 30 Meter spanischem Seidensatin und französischer Spitze, auf dem rund 40.000 Kristalle appliziert sind. Folter, Wollust, Mord, Eifersucht, Verzweiflung – alles ist drin in dieser Oper, bei der am Ende alle tot sind. Ehemann Yusif Eyvazov mimt den treuherzigen Maler Mario Cavaradossi. „Anna ist meine große Schule“, sagt er. „Sie lehrt mich so viel, oft ohne es auszusprechen.“
Ihren 50. Geburtstag im September wird Netrebko auf dem Roten Platz in Moskau feiern. Trotz österreichischem Pass und Kammersängerin-Titel bleibt sie eine „Volkskünstlerin Russlands“ – ein Titel, den ihr 2008 der russische Präsident Wladimir Putin persönlich verliehen hat. Ihre damalige Unterstützung im Putin-Wahlkampf brachte sie im Westen in die Bredouille. Heute vermeidet sie es, über Politik zu reden.
Die Bühne, sagt Anna Netrebko, sei „wie eine Droge“. Doch sie weiß, dass diese Zeit irgendwann mal ein Ende hat. „Hoffentlich bin ich stark genug, die Bühne zu verlassen, bevor das Publikum es will.“ l