... Sie im Gespräch die Haare nach hinten“ oder „Männer mögen es, wenn sich Frauen rar machen“. Auf solche Geschlechterklischees kann ich sehr gut verzichten. Sarah Neubauer, die erwähnte Coachin, wirkt auf ihrer Internetseite (mehrtiefgang.de) ziemlich seriös. Ich rufe sie an. „Flirten ist ja eine ganz persönliche Sache“, erklärt sie am Telefon. „Und deine Angst davor hat eher mit deiner inneren Einstellung zu tun als mit vermeintlich richtigem oder falschem Verhalten.“ Weil wir in einem ähnlichen Alter sind, sind wir schnell beim Du und können gleich zusammen lachen. Sie betont, Authentizität sei ihr wichtig beim Flirten. Das klingt gut, also machen wir einen Termin aus.
Unser erstes Treffen findet im Park statt. Das finde ich erst mal seltsam, weil mir Dating vor allem deshalb Angst macht, weil ich mich dabei beobachtet fühle. Darüber in der Öffentlichkeit zu sprechen, macht mich nervös. Aber der Spaziergang mit Sarah bringt mich nicht nur körperlich in Bewegung, sondern bewegt auch meinen Geist. Wir machen eine Bestandsaufnahme: Was sind meine Ängste? Was soll sich ändern? Ich erzähle, dass ich schrecklich schnell rot werde, auch in Situationen, die nur mit sehr fantasievoller Interpretation peinlich sein könnten. Und dann schäme ich mich auch noch fürs Rotwerden. Ein Teufelskreis, aus dem ich glaube nur ausbrechen zu können, wenn ich jeden Blickkontakt vermeide. Ich erzähle, dass ich deswegen Dating-Apps ausprobiere, um die ersten Schritte im sicheren Schutz der Online-Anonymität zu gehen. Allerdings traue ich mich dann oft nicht zu den verabredeten analogen Treffen. Sarah empfiehlt mir, einen Satz zu überlegen, mit dem ich mein Rotwerden charmant kommentieren könnte, um mich dem nicht unkontrolliert ausgeliefert zu fühlen. Das gibt sie mir als Hausaufgabe mit. Und: Blickkontakt nicht aktiv ausweichen!
Zu unserem zweiten Treffen, diesmal in Sarahs Praxisraum, schlurfe ich in Jogginghose. Zwei Tage zuvor hätte ich eigentlich ein Date mit einer Frau gehabt. Ich hatte es über eine Dating-App ausgemacht, dann aber zehn Minuten vorher abgesagt. Wie schon so oft. Offensichtlich ist bei mir noch viel Coaching-Arbeit nötig ... Im Gespräch mit Sarah komme ich zum Schluss, dass Online-Dating einfach nichts für mich ist. Und dass wir uns darauf konzentrieren wollen, meine Angst vor Kontaktaufnahme im „echten Leben“ zu überwinden. Dafür habe ich mir zumindest einen potenziellen Kommentar zum Rotwerden überlegt: „Hab sogar extra Rouge für dich nachgelegt.“ Na ja, vielleicht ein bisschen cheesy. Aber der Satz muss gar nicht zum Einsatz kommen. Es hilft schon, ihn im Kopf parat zu haben.
Ich lächle, er lächelt nicht zurück. Auch okay
Sarah möchte heute ans Eingemachte gehen. Sie stellt zwei Stühle auf. Der Stuhl links steht für den Teil, der mich vom Flirten abhalten möchte, der rechts für den Teil, der eigentlich Lust darauf hat. Sarah sagt, dass der Teil, der mich abhalten will, auch zu etwas gut sei. Ich soll mich auf diesen Stuhl setzen und ihre Fragen aus dieser Perspektive beantworten. „Wozu bist du gut?“, fragt sie. „Ich beschütze Maria“, sage ich. Über mich in der dritten Person zu sprechen ist seltsam, aber erstaunlich schnell gewöhne ich mich daran. Ich erzähle, dass ich wie so gut jede Frau schon als kleines Mädchen Sexualisierung erfahren habe. Aus diesen Erfahrungen habe ich „gelernt“:
Wenn ich hübsch und nett bin, werden Männer aufdringlich. Deswegen habe ich mir über Jahre antrainiert, unfreundlich und abweisend zu sein. Jetzt bin ich aber kein Mädchen mehr, ich bin groß und stark, ich habe gelernt, mich auszudrücken, kenne meine Grenzen und habe den Feminismus entdeckt, der mir die Sicherheit gibt: Es ist okay, Nein zu sagen. Eine riesige Erkenntnis für mich.
Sarah und ich beschließen, den Selbstschutzteil in mir in Urlaub zu schicken, weil ich jetzt auch ohne ihn klarkomme. Der aufgeschlossene Teil soll dafür mehr zum Zug kommen: Bis zu unserem nächsten Termin soll ich versuchen, bewusst zugewandt auf andere zuzugehen. Kein absichtliches Wegschauen, kein abweisender Blick. Und das tue ich. Gleich auf dem Weg nach Hause schaue ich alle an, die mir auffallen: die drei Anfang Dreißigjährigen, die in einem Café sitzen, zum Beispiel. Dabei merke ich: Ich werde gar nicht so viel angeschaut oder beobachtet, wie ich immer befürchtete. Außerdem achte ich zum ersten Mal darauf, welche Personen ich selbst überhaupt interessant finde, etwa den Mann auf dem Retro-Rennrad. Das fühlt sich aktiver und selbstbestimmter an. Und es ist wertschätzender, weil ich mir Zeit nehme, die Menschen um mich herum wirklich wahrzunehmen.
Die kommenden Tage merke ich, dass es mir schon leichter fällt, mit anderen in Kontakt zu kommen. Den zwei freundlichen Postboten, die an mir vorbeifahren, winke ich sogar zu, ich lasse mich von meinem Änderungsschneider in ein Gespräch verwickeln und suche tatsächlich hin und wieder Blickkontakt mit Menschen, die mir auf der Straße entgegenkommen. Für mich ein großer Schritt, der mich dazu motiviert, Sarah zu fragen, ob wir bei unserem nächsten Treffen vielleicht einen Feldversuch wagen könnten. Mein Plan: Wir laufen zusammen durch Hamburgs Szeneviertel, machen Barhopping und ich suche mir Menschen, die ich ansprechen möchte. Sarahs Aufgabe: mir den nötigen Schubs zu geben, wenn ich mich dann doch davor drücken möchte.
Wir treffen uns an einem Freitagabend, es ist sonnig und warm, viele spannende Leute sind unterwegs. Ich hatte allerdings eine miserable Woche und will eigentlich nur ins Bett und die Decke über den Kopf ziehen. Sarah meint, es könne durchaus sein, dass meine inneren Abwehrmechanismen dahinterstecken und das weniger mit den letzen Tagen zu tun habe. Wir laufen an einer breiten Treppe vorbei, auf der viele Leute sitzen, die zusammen Bier trinken oder allein die Sonne genießen. Sarah fragt mich, ob ich jemanden spontan interessant fände. Ich sage „Och, nö“ und sie merkt gleich, dass ich mich nur drücken will. „Dann lass uns dort doch mal hinsetzen“, schlägt sie vor und bleibt stehen. Ich schaue zur Treppe – und sträube mich wie ein Turnierpferd, das partout nicht über das Hindernis springen will. Nach einiger Zeit hat mich Sarah überredet und wir setzen uns auf die Stufen hinter zwei Männer, die ich von Weitem sympathisch fand. Ich fühle mich maximal unwohl, verschränke die Arme, sage kein Wort und gucke nur verkniffen. Sarah wartet geduldig, ob sich was löst. Nein, nichts wird besser. Nach zehn Minuten stehen wir wieder auf und gehen weiter. Damit ist der Tag eigentlich für mich gelaufen. Ich habe das Gefühl nicht rauszukommen aus meinen alten Verhaltensmustern. Doch Sarah lobt mich: Das sei doch schon ein mutiger Schritt gewesen, ich solle nicht so streng mit mir sein.
Ein paar Wochen später haben Sarah und ich unser Abschlussgespräch. Wieder im Park. Aber dieses Mal fühle ich mich zu meiner eigenen Überraschung nicht beobachtet. Ein Fortschritt! Ich erzähle Sarah von einem Gedanken, der mir bei unserem „Feldversuch“ kam: Ich habe Angst, unsympathisch gefunden zu werden, wenn ich flirte. Dass jemand denken könnte: Warum findet die sich denn so toll, dass sie glaubt, alle wollen mit ihr flirten? Sarah sagt: „Es geht beim Flirten nicht so sehr darum, toll gefunden zu werden. Sondern um das Ausprobieren. Es geht auch nicht darum, dass es immer klappt. Es macht einfach Spaß, völlig unabhängig vom Ergebnis.“ Wie ein Spiel, denke ich. Das kann ja auch Spaß machen, selbst wenn man nicht gewinnt.
Zwei Tage später sitze ich mit einer Freundin in einem Café. Der Kellner ist sehr nett, ich mache Witze, die er nicht lustig findet. Ein Mann im lässigen Anzug läuft vorbei, ich lächle ihn an, er lächelt nicht zurück. Auch okay für mich. Ich bin nach dem Coaching keine Flirt-Expertin und auch nicht plötzlich umringt von Verehrer*innen. Aber ich kann jetzt selbst entscheiden, wem ich wann meine Aufmerksamkeit schenken will, ohne von Ängsten zurückgehalten zu werden. Ich hab’ auch schon länger nicht mehr ans Rotwerden gedacht. Und das fühlt sich sehr, sehr gut an.