Vor fast fünf Jahren zog Natalie Raida nach München um. Obwohl sie aus Norddeutschland kommt, hatte Raida keine großen Probleme, die Münchener zu verstehen: „Ich habe schnell gemerkt, dass das nicht so schwer ist. Ich habe nur manchmal einzelne Wörter nicht verstanden”, erzählt sie. Generell findet die 27-Jährige, dass in der bayerischen Landeshauptstadt kein starker Dialekt gesprochen wird: „Die Leute haben eine spezielle Sprachmelodie, die sehr angenehm ist. Es gibt auch ein paar Begriffe, die ich lernen musste – wieSchmarrn oderFleischpflanzerl . Viel mehr aber nicht.” Sie selbst spricht fast noch so, wie sie im Norden sprach. „Ein paar neue Wörter, wie dieBrezn benutze ich. Aber ich sage weiterhinTschüss und nichtServus oderPfiat di ”, erklärt sie.
Gibt es also einen wirklichen Münchener Dialekt? Oder sprechen die Bewohner der Isarmetropole einfach Standarddeutsch? „Es war schon immer so: In München wird mehr Standarddeutsch gesprochen als im restlichen Bayern”, sagt Anthony Rowley, Sprachwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das münchenerische Wort für die Kaffeetasse ist zum Beispiel dieTaass – mit einem weichenT und einem langenA .
die L„ndeshauptstadt, ¿e
•hier: Hauptstadt eines
Bundeslandes
(das B¢ndesland, ¿er
• kleines Land als Teil
von einer föderalistischen
Republik)
der Begr ”ff, -e , Wort
der Schm„rrnbayer. ,
österr. , Süßspeise aus
Mehl, Milch und Eiern;
auch: Unsinn; Quatsch
das Fleischpflanzerl, -
bayer.
, flache, runde, gebratene
Mischung aus Fleisch,
Zwiebeln und Ei
die Brezn, -bayer. , österr.
, Brezel
weiterhin
•hier: immer noch
die Isarmetropole
• Großstadt am Fluss Isar;
München
das St„nddarddeutsch
• L Dialekt
der Sprachwissenschaftler,
-
• Person, die Sprache
systematisch untersucht
Ein typisches bairisches Wort dafür wäre aber dasSchalerl . Münchenerisch ist also eine Form des Bairischen, die besonders nah am Hochdeutschen ist.
Dem Münchener Dialekt geht es aber nicht gut. Nur noch wenige, vor allem ältere Leute sprechen ihn „Ohne wirklich effektive Anstrengungen ist die Gefahr groß, dass der Dialekt in den nächsten 20 bis 50 Jahren ausstirbt”, warnt Horst Münzinger. Der Vorsitzende des Fördervereins Bairische Sprache und Dialekte tut viel dafür, dass die Münchener Dialekt sprechen. „Wir haben vor drei Jahren begonnen, in Kindergärten und Schulen in München Bairischkurse anzubieten. Aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein”, sagt er. Sprachwissenschaftler Rowley ist positiver: „In München leben noch jede Menge Leute, die den bairischen Dialekt sprechen”, sagt er. Aber auch er gibt zu: „Trotzdem sind sie in der Minderheit. Durch Zuzug und durch den Sprachwechsel der jungen Generation gibt es enorm viele Menschen, die Standarddeutsch sprechen.”
Für Menschen, die aus dem Ausland oder aus anderen Teilen Deutschlands nach München kommen, ist das natürlich praktisch. „Wenn alle nur reines Bairisch sprechen würden, würde ich wahrscheinlich nicht hier wohnen”, sagt Raida. Es ist für Besucher der Stadt außerdem einfacher, wenn auf der SpeisekarteBrötchen stattSemmel oderReibekuchen stattReiberdatschi steht.
Trotzdem finden es Experten schade, dass der Dialekt langsam verschwindet. „Wenn man in der bayerischen Landeshauptstadt keine bairische Sprache mehr hört, gibt es nur noch weiß-blaue Klischees”, erklärt Münzinger. „Es ist ein großer Kulturverlust, wenn niemand mehr Dialekt spricht. Da geht eine 1500 Jahre alte Tradition verloren”, sagt auch Rowley.
Laut Münzinger wurde und wird das Münchenerische in den Schulen und Kindergärten sogar diskriminiert. „Kinder sollen dort Standarddeutsch sprechen. Lehrer verbessern sie, wenn sie Dialekt benutzen. Es ist zum Beispiel ein Fehler, wenn sieder Butter und nichtdie Butter schreiben oder sagen. Aberder Butter ist im Bairischen korrekt”, erzählt er.
Deshalb möchte Münzinger, dass der Staat etwas für den Dialekt tut: „Klare Ansagen und Druck müssen von der Politik kommen”, sagt er. Rowley glaubt dagegen nicht, dass Politiker einen großen Unterschied machen können. Viel wichtiger ist es seiner Meinung nach, welches Prestige ein Dialekt hat. „Solange Münchener eine bayerische Identität haben und stolz sind, Bayern zu sein, solange werden wichtige Merkmale des Dialekts bleiben. Deshalb bin ich insgesamt optimistisch”, sagt er.
Der bairische Dialekt hat in Deutschland auch einen guten Ruf – laut Umfragen ist er die populärste Mundart zwischen Alpen und Nordsee. 26 Prozent der Deutschen sagen, dass Bairisch ihr Lieblingsdialekt ist. Auch fürs Flirten kann es gut sein, Münchener Dialekt zu sprechen: Für 42 Prozent der Deutschen ist Bairisch am sexyesten. Denn das bairische „I mog di” klingt für viele einfach schöner als das standarddeutsche „Ich mag dich”.
Matthias Reck wohnt fast sein ganzes Leben in München. Heute spricht der 32-Jährige den Dialekt. Aber als Kind war das anders: „Ab dem Kindergarten habe ich nicht mehr Bairisch geredet, weil ich von Lehrern und Mitschülern beeinflusst wurde. Später im Beruf ist der Dialekt aber zurückgekommen”, erzählt er. Schon seine Eltern sprachen Münchenerisch. Es war ihnen aber nicht sehr wichtig, dass ihre Kinder es können.
Heute hat Reck selbst zwei kleine Kinder. „Ich finde es wichtig, dass sie den Dialekt wenigstens verstehen. Ob sie ihn sprechen oder nicht, ist dann ihre eigene Sache.” Trotzdem passt der Vater auf, dass sie bestimmte bairische Wörter benutzen. „Ich sage zu meiner Tochter öfter bewusstPfiat di und möchte, dass sie es wiederholt. Das WortTschüss war nämlich auch schon bei meinen Eltern tabu.” Das Münchenerische könnte also noch eine Chance haben. Dass es bald verschwinden wird, ist noch nicht sicher.Guillaume Horst
Das WortTschüss ist bei vielen Münchenern tabu – sie sagen lieberPfiat di .
nah
• L weit weg
die [nstrengung, -en
•hier: Aktion: Dafür
braucht man Ressourcen.
Man will mit ihr einen speziellen
Effekt erreichen.
aussterben
•hier: (bald) keine
Sprecher mehr haben
w„rnen
•hier: sagen, dass etwas
Unangenehmes passieren
wird
der Vorsitzende, -n
• Person, die einen Verein
oder ein Meeting leitet
der Foerderverein Bairische
Sprache ¢nd Dial¡kte
• Verein mit dem Ziel,
die Bairische Sprache zu
pflegen und zu helfen, dass
sie viele Sprecher hat
(pflegen
•hier: oft sprechen, damit
etwas bleibt)
der Tropfen auf dem
heißen Stein
• m Sache, von der es
viel zu wenig gibt, und die
deshalb auch keinen großen
Effekt hat
jede M¡nge
• m sehr viele
zugeben
•hier: ehrlich sagen
“n der M ”nderheit sein
•hier: ≈ weniger sein
(als der andere Teil vom
Ganzen)
der Zuzug
•von: zuziehen ≈ hier:
neu an einen Ort kommen,
um dort zu leben
die Generation, -en
•hier: alle Menschen, die
ungefähr gleich alt sind
enorm
•hier: ≈ sehr; extrem
rein
•hier: ≈ nur; nichts
anderes als
der Reibekuchen, -
• flache, runde Kartoffel-
Ei-Mischung, die in Fett
gebraten wird
(das F¡tt
•hier: organische Substanz,
z. B. Öl, Butter …)
verschw ”nden
•hier: nicht mehr da sein;
aufhören zu existieren
weiß-blau
• Landesfarben von
Bayern;hier: m so, dass
man nur Aspekte meint, die
es in München fast nicht
mehr gibt
der Kulturverlust, -e
• ≈ Verlieren von einem
wichtigen Teil der Kultur
verloren gehen
•hier: aufhören, da zu
sein
sogar
• ≈ auch
die [nsage, -n
•hier: Absicht, etwas für
den Dialekt zu tun
der Dr¢ck
•hier: Aktionen, mit
denen man erreichen will,
dass etwas getan wird
dagegen
•hier: aber
seiner Meinung nach
• ≈ wie er meint
sol„nge …, sol„nge
•hier: ≈ wenn (noch) …,
dann …
das M¡rkmal, -e
• spezielles Charakteristikum
der Ruf
•hier: öffentliche
Meinung über eine Sache
oder Person
laut }mfragen
• wie Umfragen gezeigt
haben
die M¢ndart, -en
• ≈ Dialekt
kl ”ngen
•hier: ≈ zu hören sein;
einen Effekt haben
… beeinflussen , ≈ einen
Effekt haben auf …
(Das) “ st ihre eigene
S„che.
• (Das) sollen sie selbst
entscheiden.
oefter
• ≈ manchmal; immer
wieder
bew¢sst
•hier: gut überlegt;
gewollt