Bildquelle: founders magazin, Ausgabe 27/2021
»Ich habe eine Ruine übernommen. Für mich persönlich war es die brutalste Zeit meines Lebens.«
– Benjamin Bilski
Benjamin Bilskis Fintech NAGA war 2018/19 fast schon klinisch tot. Alle Zeichen sprachen dafür. Es fehlte nur noch der Totenschein. Einzig er selbst glaubte nicht an das Ableben, obwohl er mit am besten wusste, dass es nicht gut um den Patienten stand.Was folgte, ist zwar kein medizinisches, aber dafür ein unternehmerisches Wunder – für das der Firmenchef wiederum ganz normale Erklärungen parat hat. NAGAs Turnaround in fünf Schritten.
Schonungslose Analyse
»Ich habe eine Ruine übernommen. Für mich persönlich war es die brutalste Zeit meines Lebens«, fasst Bilski die hochemotionale Ausgangssituation zum Jahreswechsel 2018/ 2019 zusammen. Heute ist er CEO der digitalen Trading-Plattform The NAGA Group AG. Damals, kurz vorm scheinbaren Ende, war er einer von drei Vorständen – der trotz der massiven Probleme fest an das Produkt und die Firma glaubte: »Ich wusste, wir sind einzigartig.« Auch für den neutralen Marktbeobachter war NAGA einzigartig, allerdings aus eher kritischer Perspektive – und hier setzt Bilskis erster Schritt der Sanierung an: »Schonungslose Analyse der Situation«. Nach dem Börsengang war der Aktienpreis abgestürzt und nur noch 50 Cents wert. Jeden Monat verbrannte das Unternehmen 1,5 Millionen Euro. Der chinesische Hauptinvestor Fosun hatte kaum Vertrauen mehr.
Denn der Kapitalmarkt will Ergebnisse sehen, belastbare Trends und Prognosen. Was einen im Geschäft rettet, ist Performance.
Daran schloss sich die Frage an, was das Unternehmen so kurz vor den Abgrund geführt hatte? Mitverantwortlich dafür war der Wildwuchs an Produkten und Plattformen. Sie waren zwar alle technologisch hochwertig, liefen aber auf verschiedenen Plattformen. Dabei war Bilski als Produktvorstand bereits lange mit an Bord. Doch überraschte ihn die Art und Weise, wie unklar das Geschäftsmodell mittlerweile geworden war. Die Monetarisierung von NAGA war so vorne und hinten nicht aufgegangen. Schlimmer noch: »Unsere Vertriebsteams – welche wir durch eine Fusion übernommen hatten – vermarkteten eine ganz andere Industrieplattform, nicht einmal NAGA.« Die Firma investierte also in eine fremde Technologie, die obendrein kein Geld brachte. Stattdessen wollte Bilski die Handelsplattform »als soziales Netzwerk pushen«. Hierfür war mehr digitales Marketing nötig. Anfang 2019 fiel dann die Entscheidung: Bilski übernahm den CEO-Posten.
Entschieden durchgreifen
Das Wichtigste war, die Kosten drastisch zu senken, um überhaupt eine Überle- benschance zu haben. Alles kam auf den Prüfstand und so erinnern heute fast nur der Name und das Social Trading an früher. 65 Mitarbeitende mussten gehen – an einem Tag. Gleichzeitig musste Hauptinvestor Fosun überzeugt werden, dass das Konzept grundsätzlich funktionierte – während täglich Geld verbrannt wurde. Zu allem Unglück warf ein Ex-Vorstandsmitglied rund 1 Million Aktien auf den Markt, was den Kurs vollends ruinierte. Damals war NAGA nur noch 20 Millionen Euro wert. Mitten in der Neusortierung war Bilski daher gezwungen, besonders harte Maßnahmen einzuleiten: 130 von 200 Mitarbeitende musste er leider verabschieden. Gleich drei Standorte in Spanien wurden geschlossen, zudem der Hauptsitz in Hamburg mit Blick auf die Elbphilharmonie.
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Neusortieren und Wachstumskurs einschlagen
Heute liegt die Zentrale auf Zypern – mit starker Fintech-Szene. Und eine schöne Sicht gibt es auch hier: 360-Grad-Blick von der Dachterrasse wahlweise aufs Meer oder die Berglandschaft. Die IT-Entwickler arbeiten in Sarajevo, die Marketingleute in Kiew. Gleichzeitig musste das Fintech seine Produkte konsolidieren. »Wir haben nach vier Jahren zum ersten Mal ein Organigramm aufgestellt. Auf diese Weise haben wir unser Geschäftsmodell geschärft und für alle verständlich gemacht: Auf den Punkt gebracht, ist NAGA ein soziales Netzwerk mit einer eingebauten Trading-Plattform«, so Bilski. Krypto, Investing und Payments wurden auf nur einer Plattform konzentriert – und branchentypisch skaliert. »Denn aufräumen ist das eine. Sich fit für die Zukunft zu machen, also eine Wachstumsstrategie festzulegen, ist ein weiterer bedeutender Schritt des Krisenmanagements«, beschreibt Bilski. Dazu ging es auf neue Märkte. Europa macht immer noch den Löwenanteil aus, doch zusätzlich ist NAGA in die Wachstumsmärkte Thailand, Vietnam, Indonesien und Australien gegangen – selbst in Afrika zeigt das Fintech Präsenz.
Neue Struktur und der Gang in neue Weltregionen – die wesentlichen Weichenstellungen hat Bilski Anfang 2019 in nur drei Monaten vorgenommen. Im vierten Quartal 2019 erzielte NAGA schon mehr Umsatz als in allen drei vorherigen zusammen. Insgesamt aber war es ein Katastrophenjahr: 13 Millionen Euro Verlust, der Aktienkurs bei 50 Cent, das schlechteste Unternehmen im Scale-Segment.
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NAGA war zur rechten Zeit am rechten Ort. Perfektes Timing, das Ergebnis harter Arbeit – und eine Portion Glück.
Fest an die Sache glauben und durchhalten
Die Onlineforen waren voll mit fürchterlichen Kommentaren. Doch Bilski hat nichts davon gelesen und »mental abgeschaltet«. Die schlimmen Artikel seien alle berechtigt gewesen, doch habe er diese negative Energie nicht an sich herangelassen. Vielmehr war er fest davon überzeugt: »Der Markt ist da, die Kunden sind da, die Industrie funktioniert. Und wir machen etwas Großartiges.« Bilski hat seine Leute beschworen, jeden Tag ein Prozent besser zu werden. »Denn der Kapitalmarkt will Ergebnisse sehen, belastbare Trends und Prognosen. Was einen im Geschäft rettet, ist Performance.«
Die schlimmen Artikel seien alle berechtigt gewesen, doch habe er diese negative Energie nicht an sich herangelassen.
Und dann kam Corona. Die Welt ging in den Lockdown, ganze Branchen standen vor dem Aus. Doch die Zentralbanken fluteten den Markt mit Liquidität, die Regierungen Europas und Nordamerikas stützten ihre Nationen mit Hilfsprogrammen. Und Millionen Menschen hatten Zeit und Geld, sich auf den Aktienhandel zu stürzen. NAGA war zur rechten Zeit am rechten Ort. Perfektes Timing, das Ergebnis harter Arbeit – und eine Portion Glück.
Das erste Halbjahr 2020 zeigte zwölf Millionen Euro Umsatz, eine Verdreifachung des Geschäfts in nur sechs Monaten. Die Aktie sprang von 50 Cent auf 2,50 Euro, die Firma war wieder 100 Millionen Euro wert. Im Juli 2020 konnte NAGA sogar neue Investoren ansprechen. Eine Roadshow brachte eine Kapitalerhöhung um 4,5 Millionen Euro ein. Daneben baute NAGA sein so wichtiges Kopiertool komplett um: Denn Social Trading bedeutet vor allem, dass Nutzer erfolgreichen Tradern folgen und ihre Transaktionen nachbilden. Doch angesichts spärlicher Prämien gab es kaum jemanden, der seine Erfolgsgeheimnisse mit der Gemeinschaft teilen wollte. Also wurde auch hier kräftig investiert: Manche Trader verdienen durch ihre Follower nun 100.000 Euro und mehr im Monat.
Wachstumskurs halten
NAGA verdient ebenfalls gut. Das erste Halbjahr 2021 war mit rund 24,5 Millionen Euro Umsatz das beste der Firmengeschichte (20-mal so viel wie zwei Jahre zuvor). Die Aktie erreichte einen Höchststand von acht Euro, 360 Millionen Euro Marktkapitalisierung. Doch ständig wird der Status quo hinterfragt, täglich ist Bilski auf der Suche nach Optimierungen und fragt: »Wo können wir wachsen?« Wenn in anderen Branchen Super-Apps funktionieren – warum nicht auch bei Finanzen? Und so vereint NAGA Pay erstmalig Banking, Investieren und Krypto in einer Anwendung. Hier können Nutzer auswählen, mit welchem Vermögenswert sie bezahlen: Aktien, Krypto- oder klassischen Währungen. »Mit all diesen Entscheidungen haben wir nicht nur die 180-Grad-Wende geschafft, sondern sind in neue Sphären vorgestoßen«, so der NAGA-CEO.
Familienvater Bilski (eine zweieinhalbjährige Tochter, seine Frau hat er auf einer Dienstreise kennengelernt) würde noch weitere Managementregeln aufstellen: Für die Wiederauferstehung NAGAs zieht der ehemalige Profischwimmer direkte Parallelen zu seiner Karriere als Sportler. Daraus könnte man locker auch ein zweites Porträt schreiben.