... angereiste Tourist mag in Pandemiezeiten von fernen Dschungelflüssen geträumt haben. Jetzt bringt ihn das Kanu in eine Welt, die ihn daran erinnert, dass auch Europa einmal ein Kontinent wilder Schönheit war, wenn auch schon lange nicht mehr von solcher Unberührtheit wie hier, durch die noch immer Bären, Wölfe und Luchse streifen.
In der Raudna bewegt sich etwas direkt vor Vainus Kanu. Es ist ein Biber, der wohl nachsehen will, welches Gefährt sich so spät am Abend seiner Burg nähert. „Das hier ist ihr Reich“, sagt der 40-Jährige, nachdem das Kanu weiter fast lautlos in den Wald vorgedrungen ist. „Sie sind die Einzigen, die hier Bäume fällen sollten.“ Weil er sich aufgrund der fortschreitenden Kahlschläge in Estland immer wieder mit der Holzindustrie und der Politik anlegt, ist Vainu inzwischen einer der bekanntesten Waldaktivisten des Landes. Gemeinsam mit anderen Naturschützern hat Vainu immer wieder dokumentiert, wie in verschiedenen Landesteilen großflächig Wälder kahlgeschlagen wurden. „Die Behörden geben an, dass alles unter den bestehenden Auflagen geschieht“, sagt Vainu. „Tatsächlich kann das kaum jemand überprüfen und das macht sich die Industrie zunutze.“ Naturtouristen können dazu beitragen, dass die Wälder und Moore des Baltikums erhalten bleiben. Wer sie erkundet, entdeckt eine einzigartige Wildnis. Gleich 15 Nationalparks locken Wanderer, Mountainbiker und Kanufahrer. Der Gauja-Nationalpark in Lettland ist der größte von ihnen. Mit seinen mäandernden Flüssen, wilden Mooren und dichten Wäldern ist das Schutzgebiet ein echtes Sehnsuchtsziel für Naturfreunde – gerade in Zeiten wie diesen. Auf dem namensgebenden längsten Strom Lettlands kann man tagelang mit dem Kanu unterwegs sein.
Europas wilde Schönheit
Dichte Mischwälder wechseln sich mit wilden Auenlandschaften und hellen Sandbänken ab, auf denen Flussuferläufer, Gebirgsstelzen, Stock- und Krickenten rasten. Von toten Ästen im Ufergestrüpp spähen Eisvögel nach Beute. Mit etwas Glück können Paddler auch Biber oder sogar Fischotter beobachten. Am besten kommen Wanderer und Kanufahrer in einem der familiengeführten Gästehäuser rund um den Nationalpark unter. Auf den Waldwiesen um das rustikale Ferienhaus Agave kann man im Sommer Kraniche beobachten und im Herbst zur Brunftzeit das Röhren der Rothirsche hören. Von einem nahen Weiher tönt das Quaken der Frösche. „Fast alle Arten, die im Nationalpark leben, sind auch hier zu Gast“, sagt Gastgeberin Sarmite Steine, „die Tiere interessiert ja nicht, wo die Grenzen des Schutzgebiets liegen.“ Steine arbeitete früher als Psychologin in der Hauptstadt Riga. Vor vier Jahren kaufte sie einen alten Bauernhof am Rand des Gauja-Nationalparks und richtete Gästeunterkünfte im ehemaligen Stall ein. Später kam das Holzblockhaus als Feriendomizil für Familien und Wandergruppen hinzu. „Ich wollte in der Natur leben“, sagt die 60-Jährige, „einfach ganz zur Ruhe kommen.“ Aus Pfefferminze, Rotklee, Brennnessel und Johanniskraut macht Steine für ihre Gäste Entspannungstees und serviert zum Frühstück selbst gepflückte Beeren und Pilze. Wer möchte, kann sie auch auf Meditationsspaziergängen beim Waldbaden begleiten. „Der Mensch muss erst lernen, dem Wald zuzuhören“, sagt sie, „wenn man hier in sich geht, beginnt man, Antworten in sich selbst zu finden.“
Wir sind nur Gast in der Natur
Für Steine bedeutet ihr „Zurück zur Natur“ auch eine Beschäftigung mit dem vorchristlichen Erbe der baltischen Länder. „Unsere Vorfahren wussten: Wir Menschen sind zu Gast in der Natur.“ Eine Rückkehr zu heidnischen Bräuchen und eine Verehrung von Naturheiligtümern, in Estland und im lettischen Livland auch Maausk genannt, gewinnt in den letzten Jahren wieder mehr Nachfolger. Steine hat im Wald hinter ihrem Hof einen Runen-Pfad angelegt, durch den sie gerne interessierte Gäste führt. „Dieses Zeichen hier steht für Zalktis – Leben und Erneuerung“, erklärt Steine vor einer zwischen Fichtenzweigen aufgehängten Holzrune. Sie trägt sie auch als Anhänger um den Hals. „Es symbolisiert die Ringelnatter, die einst als heiliges Tier galt.“ Alten Überlieferungen nach hielten die Balten auch im Mittelalter noch die Schlangen als Haustiere und fütterten sie mit Milch. „Dieser Respekt vor dem Leben ist heute mindestens genauso entscheidend wie vor Hunderten von Jahren“, sagt Steine, „wir haben ihn nur fast überall verlernt.“ Sie kann nicht verstehen, dass in den baltischen Staaten auch heute noch Wälder kahlgeschlagen werden.
Bei Flughörnchen und Bären
In Alutaguse im Nordosten Estlands wandert Bert Rähni durch ein Moorgebiet. Die Sumpfwiesen entlang des Bohlenwegs leuchten silbern von den Blüten des Wollgrases. Der Veranstalter für Naturreisen weist auf die Vielzahl der Beeren am Wegrand hin. Im Herbst schwärmen die Esten aus, um überall Heidel-, Preisel-, Moos-und Moltebeeren zu pflücken. Aus dem Moor geht es weiter durch einen lichten Espenwald. „Solche Orte lieben die Flughörnchen“, sagt Rähni, „um sie zu sehen, muss man aber nachts unterwegs sein.“ Die hübschen Nager mit dem mausgrauen Pelz und den übergroßen schwarzen Augen gleiten mit ihrer ausgespreizten Flughaut bis zu 35 Meter von Baum zu Baum. Rähni bietet spezielle Touren an, um die Tiere zu beobachten. „Sie sind in letzter Zeit sehr selten geworden“, sagt er. Neben Russland kommen sie in Europa nur noch in Finnland und Estland vor. Die Rodungen setzen der Art besonders zu. Sie gilt auf der Roten Liste Estlands als vom Aussterben bedroht.
Im Schlamm hat Rähni eine frische Bärenspur entdeckt. Der Naturführer reagiert jedoch gelassen. „Bärenangriffe sind hier sehr selten und wenn, dann nur bei Jagdunfällen oder wenn man zwischen eine Bärin und ihre Jungen gerät.“ Für Wanderer gehe keinerlei Gefahr aus. „Die Toleranz für Bären ist hier sehr hoch und jeder hat seine eigenen Geschichten mi ihnen.“ In Estland leben mehr als 800 Braunbären. Nirgendwo sonst in Europa gibt es eine dichtere Population. Die Tiere zogen vor der Pandemie eine wachsende Zahl an Touristen an.
Bereits 2017 hatten mehr als 30 Reiseveranstalter und Tourismusunternehmen einen offenen Brief an das Umweltministerium geschrieben. „Die fortschreitenden Abholzungen widersprechen dem internationalen Bild Estlands als ein Land unberührter Natur und geschützter Wälder“, heißt es darin, „theoretisch stehen 26 Prozent unter Schutz, aber in Wirklichkeit wird täglich gerodet.“
“Die Tiere sind der wahre Wert des Nationalparks”
Unsere Reise-Tipps
UNTERKÜNFTE
Nicht nur für Camper ist Ozolkalns ein kleines Paradies direkt an der Gauja: www.ozolkalns.lv Das Soomaa Puhkekyla hat wunderschön eingerichtete Zimmer und ist ein idealer Ausgangsort für Wanderungen, Kanuoder Mountainbike-Touren im Nationalpark: www.soomaapuhkekyla.com Eine Übernachtung in einer der Bärenbeobachtungshütten von Alutaguse ist ein einzigartiges Erlebnis: www.natourest.ee
VERANSTALTER
Geoplan Privatreisen hat die wichtigsten Nationalparks des Baltikums im Programm. Tel.: 030-3464981-0, www.geoplan-reisen.de
WEITERE INFOS
www.lithuania.travel
www.latvia.travel
www.visitestonia.com
Magische Augenblicke
Auch für Rähnis kleines Unternehmen NaTourEst ist die Situation bereits zur Bedrohung geworden. Eigens für die Bärenbeobachtung bietet er Übernachtungen in einer Hütte an einer Lichtung an. Der Wanderpfad dorthin führt durch einen dichten Nadelwald. Am Wegrand streuen Kuckuckslichtnelken, Storchenschnabel und Baldrian Farbe ins Grün. Um sie flattern bunte Schmetterlinge. Irgendwann steht Rähni vor einer Kahlschlagfläche. Abgehackte Baumstümpfe zeugen davon, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Kettensägen am Werk waren. „Es war ein Schock“, sagt er mit Blick auf die klaffende Lücke im Wald. Rähni hofft, dass der estnische Wald weiter Heimat von Bären, Auerhähnen und Flughörnchen bleibt. „Ohne sie kommen keine Touristen hierher“, sagt er, „sie sind der wahre Wert des Waldes.“ Noch aber kommen die Bären regelmäßig auf seine Lichtung. Wenn Meister Petz in den hellen Sommernächten von Alutaguse urplötzlich aus dem Wald auftaucht, halten in der Beobachtungshütte alle den Atem an. Es ist, als sehe einem die Wildnis selbst einen Moment lang in die Augen.