... Kollegen kennen jetzt die tobenden Kinder, die bessere Hälfte (auch in Jogginghose) und unseren ungeschminkten Out-of-bed- Look. Aber ist deswegen plötzlich alles egal? Sind Windelwechsel während der Videokonferenz und brabbelnde Babys im Team-Call das neue „Normal“?
Es ist Zeit für angepasste Regeln!
Zum Glück nicht, meint Sören Mohr. Er ist Mitglied im Future Circle des Zukunftsinstitutes, das Erkenntnisse aus der Trendforschung für Unternehmen zusammenträgt – auch zum Thema Umgangsformen. Ob digital oder „live“: Der Geschäftsführer einer 50-köpfigen Werbeagentur hat selbst reichlich Erfahrung mit Kindern am Arbeitsplatz, und das nicht erst seit Corona. Sein Unternehmen wurde mehrfach mit dem „Top Job“-Siegel für herausragende Arbeitgeberqualitäten ausgezeichnet, darunter auch die Familienfreundlichkeit.
Doch familienfreundlich bedeute nicht, so der Kieler, dass es keine Regeln für den Umgang mit dem Nachwuchs während der Arbeitszeit gebe.
„Toll gemacht, Schatzi, ja zeig mal dein selbst gemaltes Bild, da ist die Kamera!“
Wie diese konkret aussehen variiert natürlich je nach Branche, Unternehmen, Teamgröße und anderen Faktoren. Doch so manche sinnvolle Richtlinie lasse sich laut Sören Mohr auch allgemeingültig aufstellen. Wer in der Pandemie die Kinder zu Hause betreuen und gleichzeitig arbeiten muss, dem rät er zum Beispiel: „Nur weil mein Kind gerade meine Aufmerksamkeit braucht, heißt das nicht, dass es die Aufmerksamkeit aller Teilnehmenden einer Videokonferenz auf sich ziehen sollte.“ Bei voller Windel oder lärmendem Wutanfall also lieber kurz und stumm geschaltet das Bedürfnis des Kindes erfüllen – und dann mit voller (oder eben bestmöglicher) Aufmerksamkeit zurück in die Konferenz.
„Das ist Arbeit. Bitte störe nicht“
Bevor man dafür immer wieder ins Kinderzimmer rennt, erscheint es manchmal einfacher, den Nachwuchs einfach auf dem Schoß sitzen zu lassen. Spricht denn grundsätzlich etwas gegen ein Kind in der Videokonferenz? „Auf keinen Fall!“, betont Sören Mohr – und das sieht der Werber nicht nur für die Kreativbranche so: „Mittlerweile ist es branchenübergreifend absolut normalisiert, dass Kinder in Videokonferenzen dabei sind.“
Nur sind sie leider nicht immer die ruhigsten Zuschauer. Im Gegenteil: Manche Kinder sehen die Teilnehmenden einer Konferenz als persönliches Publikum – zum Beispiel für die Präsentation ihrer Spielzeugsammlung. Wenn das dritte, vierte, fünfte Stofftier freudestrahlend und ausgiebig kommentiert in die Kamera gehalten wird, setzt auch beim familienfreundlichen Chef Sören Mohr das Kopfschütteln ein. Nicht über das Kind, sondern über den Elternteil, der dieses Verhalten zulässt: „Solche vermeintlich niedlichen Einlagen stehlen allen Teilnehmenden Zeit – und das ist einfach unhöflich. Ich sehe es als Teil des Erziehungsauftrages, dass die Kinder von ihren Eltern lernen: Das ist jetzt Arbeit. Das ist wichtig. Bitte störe uns nicht.“
(Fast) alles wie bei den Erwachsenen
Im Grunde, so Mohr, gelten für anwesende Kinder in Videokonferenzen dieselben Regeln wie für Erwachsene: Reden, wenn man dran ist (denn vielleicht wird das Kind ja angesprochen, natürlich darf es dann antworten!). Und wenn man nicht dran ist, zuhören – oder zumindest leise sein.
Darüber hinaus gibt Sören Mohr zu bedenken, dass Gespräche und gezeigte Inhalte in einer beruflichen Besprechung nicht immer kindgerecht seien. So saß jüngst die achtjährige Tochter einer Mitarbeiterin mit vor dem Bildschirm, als in einem Online-Seminar ein nicht jugendfreier TV-Spot gezeigt wurde. Die Mutter nahm es mit Humor: „Danke, das Thema Auf klärung hat sich für uns jetzt erledigt“, kommentierte sie.
„Ich möchte nicht über Stuhlgang reden“
Genau wie manche „erwachsene“ Themen nicht kindgerecht sind, sind viele Themen rund ums Kind aber auch tabu für die Runde mit den Kollegen. Denn nur weil die verschärften Corona-Regeln dafür sorgen, dass wir unseren Nachwuchs schon bei der ersten Schnodderblase zu Hause behalten müssen, heißt das nicht, dass deren Konsistenz ein adäquates Gesprächsthema im Büro ist: „Natürlich möchte ich wissen, wenn ein Kind einer meiner Mitarbeitenden ernsthaft krank ist. Allein schon, weil ich als Arbeitgeber vielleicht unterstützen kann. Und natürlich möchte ich wissen, wenn es Corona hat“, erklärt Mohr seine persönliche Einstellung zu dem Thema.
„Es ist immer wichtig, die aktuelle Situation zu berücksichtigen, den richtigen Ton zu treffen und angemessen mit anderen Menschen umzugehen“
„Aber nein, ich möchte nicht die Farbe des Schnodders oder des Durchfalls wissen. Eigentlich möchte ich gar nicht über Stuhlgang reden. Und auf keinen Fall gehören solche Gespräche in eine Runde mit dem gesamten Team – ganz egal ob live vor Ort oder ‚nur‘ digital.“ Eine einfache Info, dass das Kind heute krank sei und man deshalb früher gehen müsse oder im Homeoffice eingeschränkter erreichbar sei, reiche dem Geschäftsführer aus.
Knigge 2.0: Höf lichkeits-Umgangsformen
Darf ich …
… im Kundenmeeting via Video-Konferenz Jogginghose tragen? Ob digital oder real: Der bestehende Dresscode bleibt der gleiche!
… mein Kind füttern oder Bäuerchen machen lassen währenddessen? Was andere nicht stört, ist okay. Im Zweifel bitte stumm schalten.
… die Videokonferenz verlassen, weil mein Kind mich braucht? Ja. Auch dabei bitte stumm schalten – und beeilen, sofern möglich.
… mein Kind mit zur Arbeit nehmen, wenn es nicht in die Kita darf? Nein. Ist es zu krank für die Kita, sollte es auch nicht ins Büro.
… mich öfter krankmelden als kinderlose Kollegen? Ja, dafür gibt es das Kinderkrankengeld.
Unsere Experten
… ist Geschäftsführer einer Kieler Werbeagentur und Mitglied im Future Circle des Zukunftsinstituts. Die coronabedingten Entwicklungen für den „Business Knigge 2.0“ sagte er bereits im November 2020 korrekt voraus. Mehr Infos: new-communication.de/ trendspot
… ist Familienvater, Life-Coach, Erfolgstrainer und Buchautor. Der Gifhorner leitet ein Trainings- und Coaching- Unternehmen für Persönlichkeitsentwicklung.
Mehr Infos: damian-richter.com
Manieren kommen nicht aus der Mode
Letztendlich hat Herr Knigge bereits 1788 niedergeschrieben, was auch heute wichtig ist, damit wir Eltern in dieser pandemischen Zeit nicht komplett die Nerven verlieren (oder, um es mit den Worten des Freiherrn zu sagen, „um in dieser Welt und in Gesellschaft mit anderen Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen“): Es ist immer wichtig, die aktuelle Situation zu berücksichtigen, den richtigen Ton zu treffen und angemessen mit anderen Menschen umzugehen.
Das oberste Ziel in den Worten von Herrn Knigge: „Uns und anderen dieses Erdenleben sehr [zu] erleichtern.“ Und diese schöne Idee ist manchmal eben nur einen Klick auf die Stummschalttaste entfernt.
Kinderbetreuung zu Hause? Das sagt das Gesetz*
• Bis einschließlich 19. März 2022 können Eltern das Kinderkrankengeld auch in Anspruch nehmen, wenn ihr Kind nicht krank ist, aber zu Hause betreut werden muss, weil die Betreuungseinrichtung pandemiebedingt geschlossen ist.
• Gesetzlich krankenversicherte Eltern können je gesetzlich krankenversichertem Kind für 30 Arbeitstage (Alleinerziehende für 60 Arbeitstage) Kinderkrankengeld beantragen.
• Bei mehreren Kindern besteht der Anspruch je Elternteil für maximal 65 Arbeitstage, für Alleinerziehende für maximal 130 Arbeitstage.
*QUELLE: BUNDESGESUNDHEITSMINISTERIUM.DE
„Wahrt den privaten, verletzlichen Raum der Kollegen“
Was macht es mit uns, wenn wir einander plötzlich so persönlich-privat erleben? Life-Coach Damian Richter klärt auf
„Jeder kennt sie: die so unermüdliche Kollegin, die sonst gar nichts aus der Bahn wirft. Oder den ach so gut gekleideten Kollegen, der immer aussieht wie die Hauptrolle aus dem letzten Hollywood-Streifen. Durch Videokonferenzen nehmen wir unsere Kollegen nun neben ihren ‚Office- Rollen‘ vor allem als das war, was sie immer waren: Menschen. Mit der unperfekt perfekten Familie, einem unaufgeräumten Wohnzimmer und dem Stress, den wir alle kennen. Wenn wir unsere Kollegen privat erleben, ihre Kinder sehen oder die schlaflosen Nächte an den nicht überschminkten Augenringen ablesen können, dann dürfen wir vor allem eines: ganz bei uns bleiben.
Die Herausforderung dabei: Es liegt in der Natur des Menschen, schnell zu bewerten, aus einem kleinen Detail eine große Geschichte zu machen und diese weiterzuerzählen. Davor warne ich! Wahrt den privaten, verletzlichen Raum der Kollegen – und übt euch in Nachsicht und respektvoller Wertschätzung. So steigen die Chancen, dass andere ähnlich mit euch umgehen.
Doch egal ob Zoom-Konferenz oder normaler Büro-Alltag: Manche reden einfach immer. Wichtig dabei: Verstellt euch nicht. Jeder und jede Vorgesetzte weiß Mitarbeitende zu schätzen, die „echt“ sind und sich offen und ehrlich dem Leben stellen.
Und wenn andere wahrnehmen, dass es einem genauso geht wie ihnen selbst, so kann dies sogar zu einer stärkeren Verbindung führen. Es klingt absurd, doch besonders in unseren vermeintlichen Fehlern und Schwächen gibt es oftmals die größten Schnittmengen. Einen perfekten Schein zu wahren wirkt unnatürlich und befremdlich – und kostet immer viel mehr Energie und Anstrengung, als einfach ganz man selbst zu sein.“