... seine Söhne Franz Caspar und Johann Georg 1721 vollenden sollten. Große Schnitger-Orgeln erklangen da in Groningen, Bremen, Hamburg – in allen drei Städten unterhielt Schnitger Werkstätten –, dazu in Lübeck, Stettin, Magdeburg und Berlin, Dutzende weitere in Dörfern entlang der Nordseeküste, mehrere in Moskau. Ein beachtlicher Wirkungskreis für den Sohn eines Tischlers aus dem Dörfchen Schmalenfleth, getauft 1648 in Golzwarden in der Wesermarsch!
Orgeln waren im 15. Jahrhundert zu Statussymbolen geworden. Ein Orgelbau bewies Frömmigkeit, Reichtum und Bildungsanspruch. Und die fruchtbaren Marschen waren ebenso eine Quelle des Wohlstands wie das Handelsnetz der Hanse. Die Orgel, die Schnitger mit seinem Onkel Berendt Hus 1669-73 in der Stadtkirche St. Cosmae et Damiani zu Stade errichtete, steht für diesen Orgel-Boom. In der Mitte thront ein gravitätisches Hauptwerk, in der Brüstung, heller und lieblicher im Klang, ein Rückpositiv, über dem Spielschrank ein delikates Brustwerk und zu beiden Seiten mächtige Türme für die Pfeifen des Pedalwerks, all das klanglich von üppigster Vielfalt – in einem gerade mittelgroßen Kirchenraum. Man war eben nicht nur fromm in Stade, sondern auch reich.
Es war Schnitgers erste große Orgel. Der Wunsch nach klangstarken Instrumenten erwuchs aus dem protestantischen Brauch, die Gemeinde im Gottesdienst vielstrophige Lieder singen zu lassen. Der Organist musste den Gesang führen: mit durchdringender Oberstimme für die Melodie und solidem Bass für den Rhythmus. Und damit auch die Männer kräftig einstimmten, brauchte die Orgel Stimmen in 16’-Lage, eine Oktave unter der notierten Tonhöhe – Platz- und Windfresser. All das sollte in abwechslungsreichen Farben bereitstehen.
Die Orgel von St. Cosmae in Stade
Foto: Hans-Jörg Gemeinholzer
Schnitger gelang es, diese Ansprüche in ein tragfähiges technisch-musikalisches Konzept zu übersetzen. Die Klangmaschine Orgel hatte immer mit zwei knappen Ressourcen umzugehen: mit der Muskelkraft des Spielers, der die Spielmechanik bedient, und dem Wind, den Balgtreter mit riesigen Keilbälgen erzeugten. Noch heute beeindrucken Instrumente wie die Hamburger Jakobi-Orgel, die Orgel der Groninger Martinikerk (1692) oder die der Ludgeri-Kirche in Norden (1686-92) mit ihrer Klangmacht – dank Schnitgers technischem Geschick und seiner musikalischen Imaginationskraft. Auch mittelgroße Instrumente wie in Cappel (1680), Lüdingworth (1683), Steinkirchen (1687), Neuenfelde (1688) und Hollern (1690) spannen ihren Gesamtklang zwischen wuchtigem Bass und scharfem Diskant auf. Ihre zarteren Stimmen bezaubern in direkter Akustik umso mehr. Und die Zungenregister erweitern Farbpalette und Klangtiefe um eine eigene Dimension. Legendär sind Schnitgers „Trommeten“: rund und kraftvoll, mischfähige „Nachbrenner“ im Plenum.
Laut dem Schnitger-Experten Harald Vogel war es ein Glück für Schnitgers Orgeln, dass in ihrer Heimat zur rechten Zeit Geld da war – und dass es auch zur rechten Zeit fehlte. So konnten sie gebaut, später aber oft nicht ersetzt werden. Umgekehrt verschwand so ein ganzer Schaffenszweig Schnitgers: Großorgeln nach einem neu entwickelten Konzept, ohne Rückpositiv und mit einem raffiniert ineinander verzahnten Ensemble. Die erste erbaute er 1690-95 für die Magdeburger Johanniskirche, eine weitere 1693-98 für den Bremer Dom. Beide wurden von den reichen Gemeinden nach eineinhalb Jahrhunderten ersetzt.
Die Orgel der Ludgerikirche in Norden
Foto: Reinhard Ruge
Bis heute fasziniert der reiche, unerschöpflich variable Klang von Schnitgers Orgeln
Dass heute so viele große und kleine Schnitger-Orgeln wieder in einem Zustand erklingen, der dem Original nahekommt, ist gewissenhaften Restaurierungen zu verdanken. Besonders Jürgen Ahrend leistete vom ostfriesischen Leer aus Pionierarbeit, unter anderem an den großen Orgeln in Groningen, Norden und Hamburg.
Was wurde, was wird auf Schnitger-Orgeln gespielt? Orgelspiel war Improvisationssache. Ein Organist musste aus dem Ärmel Choräle durchführen, variieren, transponieren und fugieren – nach allen Regeln des Kontrapunkts, mit Virtuosität und Geschmack. „Literaturspiel“ wurde bisweilen als Betrug am Hörer betrachtet. Heute spielen Organisten norddeutsche Musik des 16. und 17. Jahrhunderts gern an Schnitger-Orgeln. Werke von Tunder, Praetorius, Weckmann, Scheidemann, Bruhns, Buxtehude und vielen weiteren klingen dort prägnant, farbenreich, dramatisch. Dabei wirkten diese Meister an Orgeln der Generationen vor Schnitger, erbaut etwa von den Familien Scherer und Frietzsch oder von Friedrich Stellwagen.
Bach wiederum dachte zu modern für Schnitgers Instrumente. Denn alle erhaltenen Orgeln zeigen, dass Schnitger sie mitteltönig stimmte – dass sie also einen Tonartenbereich bedienten, den Bachs Musik gezielt verlässt. Schnitger interessierte sich nachweislich für wohltemperierte Stimmungen, doch hat sie wohl keiner seiner Auftraggeber verlangt. Wenn heute gleichwohl in der Hamburger Jakobikirche Bach erklingt, dann dank penibel errechneter Kompromiss-Stimmungen. Außerdem fehlen Schnitgers Orgeln in der Bassoktave meist die ersten vier schwarzen Tasten. Die Organisten alter Schule brauchten sie nicht, und so wären die zugehörigen Pfeifen Platzund Materialverschwendung gewesen.
Was also spielten Organisten des 18. Jahrhunderts auf diesen Instrumenten? Einen Hinweis gibt das „Husumer Orgelbuch“ von 1758, das zahlreiche Concerti im italienischen Stil enthält – komponiert für Orgel. Und Schnitgers Orgeln spiegeln eben auch diesen so beliebten Typ Musik wieder: das Concerto grosso mit einem volltönenden Ripieno – dem Hauptwerk –, einem solistischen Concertino – dem Rückpositiv – und einer starken Bassgruppe, repräsentiert durch die mächtigen Pedaltürme. Einige der Concerti stammen von Christoph Wolfgang Druckemüller, Organist der Schnitger-Orgel in Jork. Ihr Gehäuse – mehr blieb nicht erhalten – bildet genau diese Gliederung ab.
Ein Lobgedicht für Andreas Werckmeisters „Orgelprobe“ von 1698 weist Schnitger als Kenner in musiktheoretischen Fragen aus. In der Freundschaft zu Vincent Lübeck, der in Stade und Hamburg an großen Schnitger-Orgeln wirkte, kreuzten sich die Gipfelleistungen der norddeutschen Orgelkunst. Dietrich Buxtehude wanderte 1687 von Lübeck nach Hamburg, denn dort baute Schnitger gerade für die Nikolaikirche die größte Orgel seiner Zeit: 67 Register, mehr als 4000 Pfeifen. So etwas wünschte sich der Lübecker Marienorganist für seine Wirkungsstätte, allerdings am Ende vergebens. Johann Sebastian Bach bewarb sich 1720 an Schnitgers zweitgrößte Orgel, in der Hamburger Jakobikirche, mit einem legendären Probespiel – auch daraus wurde nichts, wohl weil Bach die mit dem Amtsantritt verbundene Zahlung nicht leisten konnte. 1923 setzte der Schrift steller Hans Henny Jahnn, begeistert von der Jakobi-Orgel, ihre Rettung durch.
Die Orgel der Martinikerk in Groningen
Foto: Gouwenaar
1925 stand sie im Mittelpunkt einer Fachtagung, auf der sie auch Thomaskantor Karl Straube kennenlernte. Dieser Virtuose der hochtechnisierten Orgel der Spätromantik hatte hier sein Damaskus-Erlebnis: Von nun an kamen für die „Alten Meister“, Bach eingeschlossen, nur noch Instrumente dieser Art in Frage. Damit war eine neue Idee in der Welt: dass Alte Musik auch alte Instrumente braucht. In den seither vergangenen hundert Jahren hat sie bekanntlich machtvolle Wirkung entfaltet.
1947 gingen Helmut Walcha und ein Team der Deutschen Grammophon nach Cappel, 30 Kilometer nördlich von Bremerhaven. Die Orgel der Kirche St. Peter und Paul hat Schnitger 1680 für das Hamburger Johanniskloster erbaut – sehr groß und kostbar für eine Dorfk irche, aber nach Meinung Walchas und des Tonmeisters Erich Thienhaus ideal für Bach. 1953 erschien Walchas erste Bach-Gesamtaufnahme in der Archiv-Produktion. Und plötzlich wollte jeder diese Orgel spielen. Autoladungen von Orgelprofessoren aus aller Welt besuchten das winzige Küstendorf. Bis heute gelten Walchas Cappeler Mono-Aufnahmen als musikalische Referenz, noch vor seiner späteren Stereo-Einspielung.
Harald Vogel spielte 1993 den siebten und letzten Teil seiner Buxtehude-Gesamteinspielung – der ersten in diesem Umfang – in der Hamburger Jakobikirche ein, nur Tage nach Abschluss der Restaurierung der dortigen Schnitger-Orgel. In ihr versammelt sich der größte Anteil an Pfeifen aus dem 16. und 17. Jahrhundert überhaupt. Seitdem wurden hier Dutzende Aufnahmen eingespielt. In ihnen ist zu erleben, was an Schnitger-Orgeln bis heute fasziniert: ein reicher, unerschöpflich variabler Klang, aufgespannt zwischen Lieblichkeit und Schärfe, Wucht und Klarheit.
Lese-Empfehlungen
Cornelius H. Edskes, Harald Vogel: Arp Schnitger und sein Werk, Bremen 2013; 244 S., zur Zeit nur antiquarisch erhältlich
Konrad Küster: Arp Schnitger. Orgelbauer – Klangarchitekt – Vordenker, 1648-1719, Kiel 2019; 232 S., Euro 24,90