Lesen Sie das Editorial von ZEIT Geschichte - epaper
Mit diesem Editorial leitet der/die Herausgeber/in oder die Chefredaktion der Zeitschrift ZEIT Geschichte - epaper die aktuelle Ausgabe 5/2019 ein. Hier erfahren Sie, welche Artikel besonders lesenswert sind oder woher die Anregungen dazu kamen.
Zwei Bilder, die alles sagen: Am Tag ihrer Hochzeit weint Gisela Grotzke; Ehemann Gerald und seine Mutter versuchen sie zu trösten. Es ist der 4. September 1961. Berlin ist seit drei Wochen geteilt, an der Sektorengrenze wird die Mauer gebaut. Das Brautpaar steht im Westberliner Abschnitt der Friedrichstraße, auf der anderen Seite der Absperrung warten die Eltern der Braut. Sie durften nicht zur Trauung kommen. Ein amerikanischer Soldat leiht Gisela Grotzke sein Fernglas, damit sie Vater und Mutter besser sehen kann. Danach bricht sie in Tränen aus. Der Schmerz der deutschen Teilung, in solchen Momenten wird er greifbar. Die Mauer spaltete nicht nur Machtblöcke, sie trennte Menschen voneinander, schnitt mitten durch Familien.
Davon erzählt dieses Heft: Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls erinnern wir an die vier Jahrzehnte, in denen Deutschland geschieden war, zerrissen durch den Riegel um West-Berlin und den fast 1400 Kilometer langen Todesstreifen von der Ostsee bis zur Tschechoslowakei. Wir erzählen vom Ausbau und vom Ende dieser Grenze, von der Politik und der Propaganda – und von den Menschen, die mit ihr lebten, sie erduldeten, bewachten oder zu überwinden versuchten. Von Deutschen, die alles riskierten, nur um von Deutschland nach Deutschland zu gelangen. Die Weltgeschichte kennt viele Grenzmauern: Man denke an den Limes der Römer, die mittelalterlichen Stadtbefestigungen, die Chinesische Mauer – oder an Trumps Obsession an der Grenze zu Mexiko. Stets ging und geht es darum, unerwünschte Eindringlinge abzuwehren. Ziemlich einmalig ist der Versuch der DDR, die eigene Bevölkerung einzumauern. Der »antifaschistische Schutzwall« war ein monströses Bollwerk gegen die eigenen Bürger, die in Scharen davonliefen.
Auf lange Sicht war der Lockruf der Freiheit stärker als Beton und Stacheldraht; der Realsozialismus hielt dem Druck der Massen nicht stand. Doch auch die Wiedervereinigung hat die Abwanderung nur gebremst, nicht gestoppt: Noch immer blutet Ostdeutschland aus. Und noch immer zerteilt die alte Grenze das Land. So paradox es klingt, aber gerade beim Zusammenwachsen haben sich Ost und West entzweit. Die Narben der Teilung waren noch frisch, da wurden neue Wunden gerissen: Der Kahlschlag im Osten säte Hass und Wut – auf den Westen, der wie besoffen war von sich selbst, vom Siegeszug seiner Marktwirtschaft. Die bittere Pointe der Wiedervereinigung ist, dass sie einheitsstiftend wirkte – für Ost und für West, weniger für das ganze Land. Heute wird der Ruf laut, neue Bollwerke zu errichten, um das »Abendland« zu schützen. So gesehen war die Öffnung des Eisernen Vorhangs nur Episode: Europa ist wieder Grenzland. Mauern lassen sich durchbrechen, Zäune niederreißen. Unverwüstlich aber scheint ihr Fundament, die Ausgrenzung in den Köpfen.
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Steckbrief von ZEIT Geschichte - epaper
Lieferzeit Einzelheft | sofort |
Ausgabe | 5/2019 vom 17.09.2019 |
Erscheint | 2-monatlich , 6 Ausgaben pro Jahr |
Sprache | Deutsch |
Zugriff | nach der Registrierung online in der Bibliothek lesen & als PDF downloaden |
Kategorie | Reisemagazine, Freizeitmagazine und Wissensmagazine |