Alle wollen Charlie
Über sieben Millionen Exemplare wurden von der aktuellen Ausgabe des Satiremagazins Charlie Hebdo gedruckt, verbreitet und wahrscheinlich auch fast komplett verkauft. Ist es zynisch, davon auszugehen, dass nicht alle sieben Millionen Käufer nur von Mitgefühl und Solidarität bewegt wurden? Ein guter Teil des Rekordverkaufs dürfte auf einer Mischung aus Neugier, Sensationslust und weiteren, mal mehr mal weniger ideellen Motiven beruhen.
Darum ist es auch nicht zynisch, diesen unglaublichen Verkaufserfolg aus einer kaufmännischen Perspektive zu beleuchten. Sieben Millionen Exemplare ist schon absolut gesehen eine verkaufte Auflage, die einen Spitzen-Platz in der Weltgeschichte von Presse-Verkäufen beanspruchen darf (Reader’s Digest verkaufte in besten Zeiten weltweit 16 Mio Exemplare in 50 verschiedenen Ausgaben, die Tokioter Zeitung Yomiuri Shimbun soll heute noch knapp 10 Mio verkaufte Auflage erzielen. Die Bild kam in ihren besten Zeiten dagegen nicht deutlich über die 5Mio-Grenze hinaus).
Völlig außer jeder bisherigen Dimension ist aber die Steigerung zum vorherigen durchschnittlichen Verkauf: knapp 12.000%. (Zum Vergleich: mit den Kohl-Tagebüchern landete der Spiegel im vergangenen Jahr seinen Verkaufsknaller. Gegenüber der schwächsten Ausgabe 2014 lag der Titel 50% im Plus. Das ist mehr, als der Stern mit den Hitler-Tagebüchern über dem seinerzeitigen Durchschnittsverkauf lag). Mit einer einzigen Ausgabe hat Charlie Hebdo so viele Hefte verkauft, wie es in den nächsten zehn Jahren nicht verkauft hätte, wenn die Redaktion nicht Opfer dieses unmenschlichen Terroraktes geworden wäre.
Niemand kann beziffern, welcher Anteil der Verkaufsmenge auf eine reine Solidaritätsbekundung zurück zu führen ist und wie viel auf weniger selbstlose Motive. Aber wer auch immer sich zukünftig skeptisch zu den Aussichten des Verkaufs von Presseprodukten äußert, der muss im Hinterkopf haben, als wie unglaublich variabel sich der Absatz in diesem Fall bewiesen hat.
„Je suis Charlie!“ – von manchem Journalisten fordert dieses Motto persönlichen Mut, vielleicht sogar die Bereitschaft, Leib und Leben in Gefahr zu bringen. Aber für die solidarische Gemeinschaft der übrigen Verlagswelt sollten 7 Mio verkaufte Exemplare einer mutig gemachten Zeitschrift ein Beleg dafür sein, dass ihre Produkte tatsächlich noch gefragt sein können. Wir schulden den ermordeten Journalisten jeden Einsatz für die weitere Existenz einer unabhängigen, wirtschaftlich überlebensfähigen Presse. Aber das kostet keinen Mut – hier macht Charlie Hebdo Mut.
erstmals veröffentlicht in pv digest 2/2015, 6.2.2015