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Autokratische versus naturwissenschaftliche Konzepte über Erkenntnis und Wissenschaft


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skeptiker - epaper ⋅ Ausgabe 3/2022 vom 16.09.2022

AUTOKRATISCHE VERSUS NATURWISSENSCHAFTLICHE KONZEPTE

Wertet eine Person in Sachfragen die eigene Beobachtung und Erfahrung höher als die Ergebnisse anerkannter wissenschaftlicher Forschung, kann man auch von einem autokratischen Zugang zur Erkenntnis sprechen. Den Gegenpol dazu bildet der naturwissenschaftliche Zugang, der subjektive Urteile durch kontrollierte Beobachtung und explizite Analyse auf Grundlage von wissenschaftlicher Arbeit ersetzt. Die Autoren dieses Beitrags erfassten in einer repräsentativen Studie die Verbreitung der Facetten autokratischer und naturwissenschaftlicher Konzepte über Wissenschaft und Erkenntnis. Das Weiteren prüften sie, wie die Zustimmung zu diesen Konzepten mit anderen Variablen, etwa Bildung und politischer Orientierung, zusammenhängen.

Am 4. Oktober des Jahres 2020 twitterte Donald Trump nach seiner überstandenen SARS-CoV-2-Infektion: „Ich habe viel über Covid gelernt. Ich habe es gelernt, indem ich wirklich zur Schule gegangen bin. Dies ist die echte Schule, dies ist nicht die ‚Lasstuns-die-Bücher-lesen-Schule‘. Und ich hab es verstanden. Und es ist eine sehr interessante Sache.“ Der damalige US-amerikanische Präsident schöpfte seine Erkenntnis über das Virus aus seiner eigenen Erfahrung mit der Erkrankung. Ohne Zweifel ist direkte Erfahrung eine wichtige Quelle des Lernens. Wenn Sie von einer Schwarzen Mamba gebissen werden und dies überleben sollten, werden Sie in Zukunft die Schlange meiden. In diesem Fall ist die eigene Erfahrung ein guter Lehrmeister. Aber Erfahrungskontexte können auch zu falschen Erkenntnissen führen, vor allem wenn sie auf systematisch verzerrten Stichproben beruhen. Wie bei Personalern mit viel Erfahrung, die auf ihre Intuition vertrauen. Dabei fehlt ihnen allesamt die Kontrollgruppe, denn sie ler- nen ja nur, wie sich die Personen bewähren, die sie einstellten (vgl. z. B. Kanning 2021). Der berufliche Erfolg der abgelehnten Bewerber entzieht sich ihrer Kenntnis.

» Kontrollierte Beobachtung und Analyse ersetzen subjektive Erfahrungen und Intuition. «

Autokratischer Zugang

Um die Fehler und Fallen der eigenen Erfahrung zu umgehen, bedienen sich die empirischen Wissenschaften Studien unter kontrollierten Bedingungen. Die Ergebnisse werden publiziert, in Journalen und in Büchern. Nach Donald Trump lehrt uns die „Lasst-unsdie-Bücher-lesen-Schule“ jedoch wenig über die echte Welt. Ein solcher Zugang zu Erkenntnis erhebt die individuelle Erfahrung und Beobachtung über die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. Auf den Demonstrationen der vergangenen Jahre gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie versammelten sich Menschen unterschiedlichster Couleur. Aber was sie einte und mit Trump verband, war die Selbstermächtigung zur Bewertung von Erkenntnis. In der Studie zum Querdenkertum von Nadine Frei und Oliver Nachtwey (Frei, Nachtwey 2021) offenbaren die Haltungen der Befragten eine Überhöhung des Individuums, was eigene Erfahrungen und erkenntnisbezogene Überzeugungen betrifft. Die AutorInnen identifizieren als zentrales Ziel der Querdenker-Aktivitäten die „Übernahme der Fremd- in die Selbststeuerung“ 1, inszeniert als ein heroischer Kampf um Freiheit. Bemerkenswert ist dabei der Umgang mit der Wissenschaft. Nicht alle Querdenker würden sich selbst als grundsätzlich wissenschaftsfeindlich bezeichnen. Zum Teil berufen sie sich explizit auf Aussagen einzelnerWissenschaftler 2. Aber dabei führt die Selbstermächtigung zu einem folgenschweren Verhalten: Das Ichentscheidet, wer als guter und wer als böser Wissenschaftler gilt. Das Subjekt teilt die Lager in Freund und Feind. So entsteht das Problem, dass die Gruppe der Feinde immer größer wird. Um mit dieser Dissonanz umzugehen, kann erstens der Außengruppe eine Agenda zugeschrieben werden, die in ihrem Kern verwerflich und zugleich bedrohlich ist, weil hinter ihr eine Verschwörung mächtiger Agenten vermutet wird. In moderater Ausprägung wird einer Gruppe von Forschenden Käuflichkeit, Täuschungsabsicht und Fälschung von Ergebnissen und Statistiken unterstellt. Im extremen Fall kommt es zu Morddrohungen 3. Die zweite Taktik beschrieb der Sozialpsychologe Geoffrey Munro als „scientific impotence excuse“ (Munro 2010). Unliebsamen wissenschaftlichen Disziplinen, wie, im Falle der Querdenker, Virologie und Epidemiologie, wird die Kompetenz abgesprochen, mit ihren Methoden ein Phänomen adäquat erfassen zu können. Befunde aus Studien, die der eigenen Überzeugung widersprechen, lassen sich somit diskreditieren. Da sie ja, so die Unterstellung, auf obsoleten Verfahren beruhen. Ein Konzept der Erkenntnis, das auf Selbstermächtigung und Diskreditierung wissenschaftlicher Methoden beruht, wollen wir hier als autokratisch bezeichnen. Das Ich wird dabei zur Quelle der Erkenntnis und zugleich zu deren letzter Bewertungsinstanz ermächtigt. Damit dies nachhaltig gelingt, werden die eigenen Überzeugungen systematisch gegen Kritik immunisiert. Idealerweise eignet sich dafür der Rekurs auf die eigene Erfahrung und intuitive Einsicht. Beides zusammen garantiert Wissenshoheit. Vollständig subjektiviert lassen die so gewonnenen Einsichten sich nicht durch Andere in Frage stellen. Nun gründen empirische Wissenschaften ebenfalls auf menschlicher Erfahrung. Um deren Befunde abzuwerten, werden die wissenschaftlichen Methoden, deren Vertrauenswürdigkeit und Objektivität angezweifelt.

Naturwissenschaftlicher Zugang

Der naturwissenschaftliche Zugang ist der Gegenpol zum autokratischen. Er basiert auf Überwindung der Subjektivität, auf Kritik und Diskurs. Kontrollierte Beobachtung und explizite Analyse ersetzen subjektive Erfahrungen und Intuition. Das Fundament für diesen Ansatz liefern die Methoden, die die Beobachtung und Erfahrung um individuelle und kontextbedingte Fehler bereinigen. Damit ist der Einzelne nicht mehr Quelle und schon gar nicht letzte Bewertungsinstanz von Erkenntnis. Der Forschende als Individuum ist nicht frei in dem Sinne, dass es ihrer oder seiner Entscheidung obliegt, wie die Forschung durchgeführt und kommuniziert wird. Die Methoden liefern ein Regelwerk, das zwar die Forschenden zukünftig kollektiv weiterentwickeln, dessen aktuellem Stand sie sich jedoch verpflichten. Die Methoden umfassen Regeln des Messens, der Planung und Durchführung von empirischen Untersuchungen, der statistischen Auswertung, der Bewertung in Bezug auf Hypothesen und die dahinter stehenden Theorien, sowie Regeln der Kommunikation in Publikationsorganen 4. Ob die Befunde einer Studie in einem Fachjournal publiziert werden, obliegt nicht allein der Entscheidung des Forschenden, sondern der Bewertung durch die Peers, die die eingereichte Forschungsarbeit begutachten. Die Gutachtenden sind gehalten, die Forschung nach dem Regelwerk der Methoden und den aktuellen Standards der Wissenschaft zu überprüfen. Selbstermächtigung hat hier keinen Platz. Wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft von uns erwartet, dass wir beispielsweise die statistische Effektstärke von Befunden zu berich- ten haben, dann müssen wir dies tun. Und behauptete jemand, dass seine Befunde und seine Theorien als der Weisheit letzter Schluss gelten sollen, dann würde er in der wissenschaftlichen Gemeinschaft mit dieser Selbstüberhöhung nur Spott ernten. Der naturwissenschaftliche Zugang verlangt den Akteuren Demut und Frustrationstoleranz ab. Denn jede wissenschaftliche Erkenntnis ist vorläufig. Alles steht unter dem Vorbehalt der Kritik.

In einer repräsentativen Studie erfassten wir die Verbreitung der Facetten autokratischer und naturwissenschaftlicher Konzepte über Wissenschaft und Erkenntnis. Zudem prüften wir, wie diese mit weiteren Variablen, wie Bildung und politischer Orientierung, zusammenhängen.

Methodik der Studie

Bei der Studie handelt es sich um eine schriftliche Befragung mit geschlossenem Antwortformat. Der Fragebogen wurde auf SoSciSurvey 5programmiert und online erhoben. Die Stichprobe der Teilnehmenden zog der Online-Access-Panelanbieter GapFish 6. Insgesamt 1078 Personen nahmen an der Studie im Juni 2021 teil. 40 Fälle wurden aufgrund einer allgemeinen Antworttendenz aus der Analyse ausgeschlossen. Sie stimmten entweder allen Fragen zu oder lehnten alle ab, was zu inkonsistenten Antwortmustern führte. Die verbleibende Stichprobe war repräsentativ für die bundesdeutsche Population hinsichtlich der Variablen Geschlecht, Alter, Bildungsabschluss, Erwerbsstatus, Einkommen sowie Parteipräferenz. Darüber hinaus wurde die Größe der Gemeinde des Erstwohnsitzes berücksichtigt. Der Fragebogen umfasste insgesamt 20 Aussagen, die in zufälliger Reihenfolge präsentiert wurden. Wir berichten die Ergebnisse zu insgesamt 12 Items, die naturwissenschaftliche und autokratische Konzepte thematisierten. Als Antwortalternativen standen jeweils die Optionen „Stimme zu“, „Lehne ab“ sowie „Unentschieden“ zur Verfügung.

Aussagen zu naturwissenschaftlichen Konzepten

N1: Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und Theorien sind vorläufig.

N2: In der Wissenschaft geht es um kritische Prüfung von Annahmen mittels bewährter Methoden.

N3: Viele menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten lassen sich verlässlich messen.

N4: Befunde aus wissenschaftlicher Forschung sind verlässlicher als die Erfahrungen Einzelner.

N5: Wissenschaftliche Experimente stellen die beste Methode dar, um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu überprüfen.

N6: Die Statistik bietet uns verlässliche Verfahren, um die Bedeutung von Forschungsergebnissen zu bewerten.

Aussagen zu autokratischen Konzepten

A1: Letztendlich sollte man sich nur auf seine eigene Erfahrung verlassen.

A2: Ich vertraue eher meinem Bauchgefühl als Expertenaussagen.

A3: Wissenschaftliche Experimente sind künstlich und liefern keine wirklichen Erkenntnisse über die echte Welt.

A4: Für das richtige Geld bekommt man die wissenschaftlichen Ergebnisse, die man will.

A5: Ob man wissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut, ist auch nur eine Frage des Glaubens.

A6: Statistik traue ich eher nicht.

Die naturwissenschaftlichen Aussagen finden sich im Kasten unten. Deren Inhalte folgen Lehrbuchstandards in empirischen Wissenschaften (vgl. z. B. Sedlmeier, Renkewitz 2018). Demnach sind wissenschaftliche Erkenntnisse, wie Theorien und Befunde, vorläufig (N1). Sie stehen immer unter dem Vorbehalt, dass sie korrigiert oder weiterentwickelt werden können. Kritische, methodisch fundierte Prüfung von Annahmen charakterisiert den Prozess der Erkenntnis (N2). Dies setzt voraus, dass Phänomene und Variablen verlässlich gemessen werden können. Nicht nur für physische Phänomene existieren verlässliche Messverfahren, auch für die Messung von psychischen Variablen wie Fähigkeiten (z. B. Intelligenz) oder Eigenschaften (z. B. Persönlichkeit) (N3). Viele Theorien und Modelle in den empirischen Wissenschaften beanspruchen, Kausalzusammenhänge zu erklären. Bei alltäglichen Beobachtungen sind unsere Stichproben häufig verzerrt (vgl. das Beispiel der Personaler oben) oder mögliche Verursachungsvariablen treten gemeinsam auf, sodass nicht klar ist, was die eigentliche Ursache eines Effektes war (Konfundierung). Auch wissenschaftliche Studien verlassen sich auf Erfahrung und Beobachtung. Aber im Unterschied zur Alltagserfahrung verwenden sie Methoden, die die Fehler und Fallen natürlicher Beobachtungskontexte kontrollieren. Mit ausgefeilter Methodik können wissenschaftliche Studien belastbarere Ergebnisse liefern als unsystematische, individuelle Beobachtungen (N4). Die Methode, die dabei die höchste Validität verspricht, ist das Experiment (N5). Durch Kontrolle und systematischen Vergleich von Experimental- und Kontrollgruppen kann der Einfluss von Fehlerquellen (z. B. Konfundierung) minimiert werden (Bröder 2011). Wenn es um Aufdeckung von Kausalzusammenhängen geht, wird das Experiment deshalb auch als „Königsweg“ der Forschung bezeichnet. Nach der Durchführung einer quantitativ-empirischen Studie müssen die Ergebnisse handhabbar gemacht werden. Einzeldaten lassen sich in der Regel schwer überblicken und schwer kommunizieren. Für die effektive Beschreibung von Daten und deren Bewertung (z. B. nach Signifikanz und Effektstärke) liefert die Statistik bewährte Handwerkszeuge (N6).

Weitere sechs Aussagen thematisierten autokratische Konzepte vgl. ebenfalls Kasten S. 101). Eine Person, die sich zur Quelle und letzten Bewertungsinstanz in Erkenntnisfragen ermächtigt, verlässt sich im Zweifel immer auf die eigene Erfahrung (A1) oder die eigene Intuition (Bauchgefühl) (A2). Den Methoden der Wissenschaft steht sie skeptisch gegenüber. So kann beispielsweise der Wert des wissenschaftlichen Experiments abgewertet werden, indem diese Methode als künstlich kritisiert wird (A3). Die Wissenschaft bzw. die Menschen, die in diese Gruppe kategorisiert werden, lassen sich global abwerten, indem man ihnen Käuflichkeit unterstellt (A4). Eine beliebte Form der globalen Diskriminierung ist die Unterstellung, dass die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse auch nur eine Glaubensfrage sei (A5). Oberflächlich scheint dies eine milde Form der Abwertung, da sie mit einem Gestus der Toleranz daherkommt. Menschen steht es ja frei, zu glauben, was sie mögen. Der naturwissenschaftliche Zugang akzeptiert aber keine selbst fabrizierten Gewissheiten oder Glaubenshaltungen als Begründungen (Albert 1980). Wie Peter Strohschneider, der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sagte: „[Das Bekenntnis], ich glaube an Wissenschaft, ist übrigens paradox. Die modernen empirischen Naturwissenschaften waren ja gerade mit dem Anspruch angetreten, dem Glauben-Müssen ein Wissen-Können entgegenzusetzen“ (FAZ 2020). Personen mit einem autokratischen Zugang zu Wissenschaft betrachten sich selbst häufig als kritisch. Querdenker betonen immer wieder, dass man ihnen so leicht nichts vormachen könne. Aus dieser Apotheose einer letztlich ignoranten Skepsis folgt auch, dass selbst Werkzeuge abgewertet werden können, die auf gut beleumundeten Strukturen wie Mathematik und Stochastik beruhen. Die Rede ist natürlich vom Misstrauen gegenüber der Statistik (A6).

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Antworten zu den Aussagen finden sich in den Abbildungen 1 und 2. Der untere Teil der Säulen zeigt den Anteil der zustimmenden Antworten in Prozent, der mittlere den Anteil unentschiedener Antworten und der obere den Anteil an Ablehnungen der Aussage. In Abbildung 1 ist Ablehnung mit roter Farbe gekennzeichnet, in Abbildung 2 die Zustimmung. Damit signalisiert die rote Einfärbung in allen Abbildungen ein Antwortverhalten, das auf ein autokratisches Konzept von Erkenntnis hindeutet. Die grüne Farbe (Zustimmung in Abb. 1 und Ablehnung in Abb. 2) signalisiert ein Antworthalten, das für einen empirisch-naturwissenschaftlichen Zugang steht. Unentschieden erscheint immer in orangener Farbe. Die Mehrheit der Befragten stimmt den naturwissenschaftlich orientierten Aussagen zu (grüne Balkenabschnitte in Abb. 1). Im Vergleich dazu werden autokratisch orientierte Aussagen seltener abgelehnt (grüne Balkenabschnitte in Abb. 2). Die Zustimmung zu Aussagen, die auf einen autokratischen Zugang hindeuten (rote Balkenabschnitte in Abb. 2), ist insgesamt deutlich geringer, macht aber im Schnitt etwa noch ein Drittel der Befragten aus (Ausnahme: die dritte Aussage zur Künstlichkeit von Experimenten). Der Anteil der Unentschiedenen unterscheidet sich deutlich. In Abbildung 2 ist deren Anteil höher als in Abbildung 1. Mehr als etwa ein Drittel der Befragten sind also ambivalent, was autokratische Aussagen zu Wissenschaft und Erkenntnis betrifft. Durchschnittlich wird naturwissenschaftlich orientierten Aussagen rund doppelt so häufig zugestimmt wie autokratischen (59,3 versus 27,3 % mittlere Zustimmung).

Abbildung 1: Anteile der Antworten zu naturwissenschaftlich orientierten Aussagen in Prozent. Abbildung 2: Anteile der Antworten zu autokratisch orientierten Aussagen in Prozent. Abbildung 3: Mittelwerte der Skalen Naturwissenschaftlicher Zugang und Autokratischer Zugang nach Parteipräferenz. Die Mittelwerte über AfD und Die Grünen unterscheiden sich signifikant vom Gesamtmittel der jeweiligen Skala (Werte der vier T-Tests rangieren zwischen 3,5 und 6,9; alle p <.001). Abbildung 4: Mittelwerte der Skalen Naturwissenschaftlicher Zugang und Autokratischer Zugangnach Bildungsabschluss. Die Mittelwerte über dem höchsten Bildungsabschluss unterscheiden sich signifikant vom Gesamtmittel der jeweiligen Skala (Werte der zwei T-Tests: 5,9 und 7,4; beide p <.001).

In einem weiteren Auswertungsschritt bildeten wir Skalen für naturwissenschaftlichen und autokratischen Zugang 7. Die Antworten wurden mit -1 (Ablehnung), 0 (unentschieden) und 1 (Zustimmung) kodiert. Die Werte wurden für jede Person jeweils über die sechs autokratischen und die sechs naturwissenschaftlichen Aussagen aufsummiert. Damit konnte die individuelle Ausprägung für die Stärke eines naturwissenschaftlichen oder eines autokratischen Zuganges zwischen den Endpunkten -6 und 6 rangieren. Mit regressionsanalytischen Verfahren prüften wir, welche der zusätzlich erfassten Variablen mit diesen Skalen zusammenhingen. Biologisches Geschlecht, Alter, Bildungsabschluss, Größe der Gemeinde des Erstwohnsitzes, Beschäftigungsstatus, Einkommen und Parteienpräferenz gingen als Vorhersagevariablen in die beiden Regressionsanalysen ein. Ein naturwissenschaftlicher Zugang war umso stärker ausgeprägt, je höher das Alter, der Bildungsabschluss und das Einkommen waren. Er war umso niedriger ausgeprägt, je stärker die politische Präferenz zu der AfD und andere (nicht im Bundestag vertretene) Parteien tendierte 8. Ein autokratischer Zugang war umso stärker ausgeprägt, je geringer Bildungsabschluss und Einkommen waren und je eher die Parteipräferenz zu AfD und andere (nicht im Bundestag vertretene) Parteien tendierte 9.

Da Parteipräferenz und Bildung sich in beiden Analysen als bedeutsame Vorhersagevariablen der Skalenwerte erwiesen, schlüsselten wir die Ergebnisse weiter auf. Abbildung 3 zeigt die Mittelwerte auf den Skalen nach Parteipräferenz. Bei der Gruppe der AfD-Wähler findet sich der mit Abstand höchste Mittelwert auf der Skala für einen autokratischen Zugang zu Wissenschaft und Erkenntnis. Diese Skala weist hingegen für Wähler der Grünen den geringsten Wert aus. Umgekehrt verhält es sich mit der Skala des naturwissenschaftlichen Zugangs. Hier erreicht die Gruppe der Grünen-Wähler den höchsten Mittel- wert, die Gruppe der AfD-Wähler den zweitgeringsten. Der geringste Wert findet sich bei der Gruppe „Andere“, also den Wählern der nicht im Bundestag vertretenen Parteien. Abbildung 4 zeigt die Mittelwerte der Skalen nach Bildungsstand. Der hier höchste Bildungsabschluss umfasst Personen mit Abitur, Fachabitur, Universitäts- oder Fachhochschulabschluss. Diese Gruppe erreicht im Mittel den höchsten Wert für einen naturwissenschaftlichen und den deutlich geringsten Wert für einen autokratischen Zugang. In der Gruppe ohne Abschluss oder Hauptschulabschluss verhält es sich umgekehrt. Hier ist der mittlere Wert für den naturwissenschaftlichen Zugang kleiner und der Wert für einen autokratischen Zugang größer als in der Gruppe mit dem höchsten Bildungsabschluss.

Was folgt daraus?

Die Ergebnisse unserer repräsentativen Studie deuten darauf hin, dass die Konzeptionen über Wissenschaft und Erkenntnis in der Mehrheit der Bevölkerung eher naturwissenschaftlich denn autokratisch ausgerichtet sind. Naturwissenschaftliche Verfahren, wie das Experiment, genießen ein hohes Ansehen. Der Prozess der methodischen, systematischen Beobachtung und Forschung wird in der Regel über die individuelle Erfahrung gestellt, Messinstrumente und Statistik als nützliche Werkzeuge betrachtet. Ein kritisch-methodischer Diskurs wird mehrheitlich befürwortet, eben weil auch wissenschaftliche Erkenntnisse als vorläufig erkannt werden.

Bei den Antworten zu autokratischen Konzepten fällt vor allem der hohe Anteil an Unentschlossenen auf. Betrachtet man diese Fälle genauer, findet sich einerseits ein Kreis an Personen, der auch naturwissenschaftlichen Positionen zustimmt und damit prinzipiell offen für einen evidenzbasierten Diskurs im Sinne von Science Matters sein könnte (Betsch 2022). Aber es gibt da auch eine weitere Gruppe, die in ihrem gesamten Antwortverhalten erstaunlich homogen ist. Es handelt sich um jene Personen, die ausnahmslos alle naturwissenschaftlichen Aussagen ablehnen und gleichzeitig allen autokratischen Aussagen entweder zustimmen oder ihnen gegenüber unentschlossen sind. Diese Personengruppe umfasst in unserem Datensatz 20 Prozent! Sie hegt einen autokratischen Zugang zu Wissenschaft und Erkenntnis, der die eigenen Erfahrungen und Haltungen über Forschungsergebnisse stellt. Diese Gruppe wird wohl mit Donald Trump übereinstimmen, die „Bücherschule“ ablehnen und sich selbst zur entscheidenden Quelle und letzten Bewertungsinstanz von Erkenntnis ermächtigen. Gleichzeitig lehnt diese Gruppe dezidiert Wissenschaft und ihre Methoden ab und neigt dazu, diese zu diskreditieren, indem sie WissenschaftlerInnen beispielsweise Käuflichkeit unterstellt. Das hat durchaus gesellschaftliche Relevanz. Denn die Autokraten klumpen an den Rändern des Parteienspektrums, bei AfD vor allem und den nicht im Bundestag vertretenen Parteien. Bei den Grünen keineswegs, wie es zumindest die Ergebnisse der Studie von Frei und Nachtwey für Baden-Württemberg hätten vermuten lassen. Die Grünen-Wähler in unserer Studie erreichen die höchsten Werte für einen naturwissenschaftlichen Zugang. Diese Befunde korrespondieren in einigen wichtigen Aspekten mit den Ergebnissen einer repräsentativen GWUP-Studie (Mestel, Hüsgen 2021) zur Verbreitung des Glaubens an Paranormales. Bei fünf Aussagen zeigten sich Unterschiede in den Zustimmungsquoten zwischen Personen mit bestimmten Parteipräferenzen. So stimmten AfD-Wähler besonders oft den Aussagen zu Hellsehen, Elektrosmog, Außerirdischen und Spuk zu. Weiter stimmten sie, am häufigsten von allen Parteianhängern, mindestens irgendeiner Aussage zu Paranormalem zu. Wähler der Grünen hingegen zeigten nur bei einer der zehn Aussagen etwas stärkere Zustimmung („Heiler/ Heilende Orte“).

Die Korrelation eines autokratischen Zugangs mit der Parteipräferenz in unserer Studie ist dabei nur eines der Probleme. Schwerer vielleicht wiegt die Implikation einer autokratischen Orientierung für den gesellschaftlichen Diskurs. Die Tendenz zur Selbstermächtigung in Bezug auf Erkenntnis, bei gleichzeitiger Ablehnung der empirischen Forschungsmethodik, erschwert jeden argumentativen, evidenzbasierten Versuch der Überzeugung oder macht ihn gar unmöglich. Autokratisch motivierte Wissenssucher sind im Kern immer dogmatisch.

Wie gelangt man zu verlässlicher Erkenntnis? Darüber gibt es in der Bevölkerung unterschiedliche Ansichten.

Abbildung: Adobe Stock -Tarokmev

» Autokratisch motivierte Wissenssucher sind im Kern immer dogmatisch. «

Mit einem freiheitlichen Anspruch verlangen sie nach Gehör, aber immunisieren sich dabei gegen Kritik an ihrer Position. Diese ist sakrosankt, denn sie gründet ja auf der individuellen Erfahrung oder Intuition der Person. Sie anzugreifen hieße, die Person selbst anzugreifen.

Was lässt sich tun? Mit Kampagnen und der Präsentation empirischer Befunde können Personen mit einem autokratisch orientierten Zugang zu Erkenntnis schwerlich erreicht werden. Unsere Studie zeigt aber auch, dass Bildung eine zentrale Rolle spielt. Je höher die Bildung, desto eher werden autokratische Positionen abgelehnt. Hier lässt sich der Hebel ansetzen – vielleicht nicht bei älteren Personen, aber bei Kindern und Jugendlichen. Denn in der schulischen Ausbildung gibt es noch einigen Spielraum, forschungsmethodische Kompetenzen effektiver zu vermitteln (vgl. z. B. Bauer, Prenzel 2012) und damit frühzeitig die Grundlage für einen naturwissenschaftlichen Zugang zu Erkenntnis und Wissenschaft zu legen.

Literatur

Albert, H. (1980): Traktat über kritische Vernunft. J.C.B.

Mohr, Tübingen.

Bauer, J.; Prenzel, M. (2012): European teacher training reforms. Science, 336, 1642-1643. DOI:10.1126/science.1218387.

Betsch, T. (2022): Science Matters – Wissenschaftlich statt querdenken. Springer, Berlin, Heidelberg.

Bröder, A. (2011): Versuchsplanung und Experimentelles Praktikum. Hogrefe, Göttingen.

Literatur, Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wissenschaft berät Politik: Eine Spannung ohne Ausweg. Interview mit Peter Strohschneider. , Zugriff am 22. Dezember 2021.

Frei, N.; Nachtwey, O. (2021): Quellen des «Querdenkertums». Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg. . io/8f4pb; vgl. S.24-26.

Kanning, U. P. (2021): Wenn Erfahrung nicht vor Torheit schützt – Urteilsfehler in der Personalauswahl. Skeptiker, 34, 64-71.

Mestel. R.; Hüsgen, I. (2021): Der Glaube an Paranormales – Teil 2. Skeptiker, 34, 176-186.

Munro, G. D. (2010): The scientific impotence excuse: Discounting belief-threatening scientific abstracts. Journal of Applied Social Psychology, 40, 579–600. https:/doi. org/10.1111/j.1559-1816.2010.00588.x.

Sedlmeier, P.; Renkewitz, F. (2018): Forschungsmethoden und Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler. Pearson, München.

1 Frey, Nachtwey 2021, S. 26, die Autoren zitieren aus Barth, C. (2014). Esoterik - die Suche nach dem Selbst: Sozialpsychologische Studien zu einer Form moderner Religiosität. Bielefeld: Transcript. S. 255.

2 Z. B. die Mediziner Bodo Schiffmann, Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi: . faktencheck-coronaskeptiker-wodarg-schiffmann-und-bhakdi-thesen-auf-dem-pruefsta nd.7610f52b-c29f-4ee3-8ad0-4974c57fb2bb. html; Zugriff am 12. Juli 2022.

3 Z. B. gegen Christian Drosten, https:// morddrohungen-gegen-top-virologen-von-pruegel-bis-scheiterhaufen-welle-unfassbarer-hassposts-gegen-top-virologen-drosten_id_11932949.html; Zugriff am 12. Juli 2022.

4 Dazu bieten die jeweiligen Fachgesellschaften vielseitige Manuale an. Z. B. in der Psychologie das APA Manual, .

5 .

6 zertifiziert nach ISO 20252; . com/de/. 7 Reliabilität der Skalen: Cronbachs Alpha &gt;.70. 8 Kriterium: Skala für naturwiss. Zugang (range -6, 6). r2= .10; F (7, 1010) = 15.4, p &lt;.001. Methode: Simultaner Einschluss aller Prädiktoren. Effekte für die signifikanten Prädiktoren: Alter Beta = .17, t = 5.1, p &lt; .001; Bildungsabschluss Beta = .17, t = 4.8, p &lt; .001; Einkommen Beta = .07, t = 2.1, p &lt; .05; Parteipräferenz Beta = -.16, t = -5.2, p &lt; .001. Effekte für Biologisches Geschlecht, Größe der Gemeinde des Erstwohnsitzes, Beschäftigungsstatus: p &gt;.05.

9 Kriterium: Skala für autokratischen Zugang (range -6, 6). r2= .096; F (7, 1010) = 15.3, p &lt;.001. Methode: Simultaner Einschluss aller Prädiktoren. Effekte für die signifikanten Prädiktoren: Bildung Beta = -.19, t =-5.3, p &lt; .001; Einkommen Beta = -.11, t = -3.2, p &lt; .001; Parteipräferenz Beta = .17, t = 5.4, p &lt; .001. Effekte für Biologisches Geschlecht, Alter, Größe der Gemeinde des Erstwohnsitzes, Einkommen, Beschäftigungsstatus: p &gt;.05.

Prof. Dr. Tilmann Betsch, Direktor des Erfurt Laboratory of Empirical Research und Inhaber des Lehrstuhls für Sozial-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Erfurt.

Lennard Pfersich, B.Sc., studierte Lehr-, Lern- und Trainingspsychologie an der Universität Erfurt.

Niclas Tannert studiert Lehr-, Lern- und Trainingspsychologie und Philosophie an der Universität Erfurt.

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