ÖSTERREICH | Wien | Wiener Festwochen
Festwochen? Nein, Festmonate heißt die Devise. Die Wiener Festwochen wurden quasi zweigeteilt. Nach einer überaus erfolgreichen Frühjahrssaison ist man nun bereit, erstmals auch den Herbst zur Festivaljahreszeit zu machen. Von August bis November steuert die Theaterwelt nach der Sommerpause also auf neue Höhepunkte zu.
Bildquelle: SIMsKultur, Ausgabe 2/2021
La Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe)Komplizenschaft im Zuschauerraum
Gleich zu Beginn kann man sich auf ein wahres Highlight freuen, wenn Phia Ménard La Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe) zeigt. 2019 lieferte die Künstlerin so etwas wie das heimliche Herz des Festivals. Dabei klang die Beschreibung von Maison Mère erst einmal banal: Ménard baute aus riesigen Pappstücken ein gewaltiges Schutzhaus für Europa. Doch zwischen Künstlerin und Publikum entstand etwas, das im Theater so selten ist wie ein Einhorn: Komplizenschaft. Die Zuseherinnen und Zuseher verfolgten den Hausbau gebannt und gaben Ratschläge, wimmerten, wenn der Kartonbau in sich zusammenzustürzen drohte, und jubelten, wenn eine neue Wand stand. Am Ende, als Ménard allein auf der Bühne saß und Regen den Traum aus Karton aufweichte, litt man mit ihr wie selten sonst mit einer Bühnenfigur. Nun zeigt die Künstlerin die zur Trilogie erweiterte Produktion als Uraufführung. Beginnend mit Mutterhaus über Vatertempel bis zu Die verbotene Begegnung exponiert Ménard die Fundamente eines geeinten Europa, eines Europa, das so unsicher wirkt wie die wackeligen Pappwände. Drei Stunden lang entsteht und vergeht Europa – und erneut wird das Publikum zu Zeugen. „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“, könnte man mit Samuel Beckett sagen.
Eine theatrale Weltreise
Wenig später geht es in eine Weltgegend, die auf ganz andere Art und Weise bedroht ist als Europa. Seit 2013 verfolgt die Schauspielerin und Regisseurin Gabriela Carneiro da Cunha ein Forschungsprojekt, in dem sie die menschlichen Eingriffe in die bedrohten Flusslandschaften Brasiliens untersucht. In Altamira 2042 gestaltet sie eine performative Installation zum Rio Xingu, einem Nebenfluss des Amazonas, dessen Aufstauung im Zuge eines Dammbauprojekts zur Zerstörung von Regenwaldgebiet und zur Bedrohung indigener Gruppen führt.
Ein dritter Kontinent kommt mit Michikazu Matsune ins Spiel. Der in Japan geborene, seit mehr als zwei Jahrzehnten in Wien lebende Performer gestaltet in Mitsouko & Mitsuko ein Aufeinandertreffen von unterschiedlichsten Einflüssen – zwischen Japonismus und Eurozentrismus entsteht eine Performance über kulturelle Zuschreibungen aller Art.
Im November, zum Ende des Festivals, gibt es ebenfalls einen Beitrag aus Japan. Toshiki Okada, einer der wichtigsten zeitgenössischen Regisseure und bei den Wiener Festwochen gern gesehener Gast, zeigt Eraser Mountain. Ausgangspunkt für dieses Werk war die künstliche Anhebung des Küstengebiets von Rikuzentakata nach dem Tsunami 2011 – hier schließt sich ein Bogen zu den Naturuntersuchungen Gabriela Carneiro da Cunhas. Basierend auf dekolonialen und ökologischen Praktiken, die sie an den Flüssen des Amazonas erlernt und erprobt hat, widmet sich da Cunha in einem Lab im Rahmen des partizipativen Festwochen-Formats „MITTEN“ der Donau. Das Festival spannt aus den gezeigten Werken also ein inhaltliches Netz, das mehr ergibt als nur die Summe der einzelnen Teile. Wiederkommen zahlt sich aus!
Zwischen Westernoper und Sozialdrama
Noch im August meldet sich auch Nordamerika zu Wort. Das New Yorker Nature Theater of Oklahoma zeigt mit Burt Turrido. An Opera eine Art Westernoper. Bekannt und beliebt ist die Truppe in Wien durch ihr im Burgtheater entstandenes Epochalwerk Life and Times. Eine Schauspielerin erzählte in 16 Stunden Telefongespräch von ihrem Leben, inklusive aller Unsicherheiten, Ähs und Ums. Kelly Copper und Pavol Liška brachten das als zehnteiliges Monsterstück auf die Bühne und zogen dabei alle Register von Musical bis zu Murder-Mystery, von Comic bis zu Film. Nun geht es im Theater Akzent auf die Insel. Burt Turrido. An Opera orientiert sich lose an Der fliegende Holländer, ersetzt Wagners Bombast aber durch Country und Western. Wie immer, wenn das Nature Theater in der Stadt ist, gilt: sich überraschen lassen. Aus Großbritannien kommt Alexander Zeldin. Beim Frühjahrsteil der Festwochen wurde Faith, Hope and Charity mit Standing Ovations bedacht – nun kehrt der gern als Ken Loach des Theaters bezeichnete Shootingstar mit einem weiteren Stück seiner Trilogie The Inequalities zurück nach Wien. In LOVE verfolgen wir acht Personen in einer Einrichtung für temporäres Wohnen, wir erleben das Zusam-menleben einer fragilen Gemeinschaft auf engstem Raum. „Theater gibt uns die Chance, das Leben so zu sehen, wie es wirklich ist“, sagt Zeldin.
Bildquelle: SIMsKultur, Ausgabe 2/2021
Burt Turrido. An OperaBildquelle: SIMsKultur, Ausgabe 2/2021
Altamira 2042Ebenfalls aus Großbritannien kommt Tim Etchells, der den Festwochen mit seiner Gruppe Forced Entertainment einige ihrer Glanzstücke bescherte. Gemeinsam mit der Violinistin Aisha Orazbayeva gestaltet er ein Heartbreaking Final als Pingpong von Sprache und Musik. Aus der Schweiz reist Thom Luz an. Der als „Nebelmaschinenexperte“ bezeichnete Regisseur wurde bereits mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen, ist in Wien aber noch ein Unbekannter. Im September kann man sich bei seinem Stück Lieder ohne Worte davon überzeugen, ob der Hype um seine Werke berechtigt ist.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Auch abseits der Bühnen kehren die Festwochen mit span nenden Projekten zurück. Ein wahres Zuckerl wartet beim Talk Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly VII. Agnostic Gather ings: Didier Eribon, mit seinem autobiografischen Buch Rück kehr nach Reims weltweit gefei ert, spricht mit der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und dem Dramaturgen Florian Malzacher darüber, wie viel Agonis mus soziale Bewegungen aushal ten können. Das neue Fest wochen Format „MITTEN“ lädt auf dem und rund um das Nordwestbahngelände zu Begegnungen, Diskussionen und Auseinandersetzung samt spannenden Keynotes, Performances und Konzerten am Abend, vieles bei freiem Eintritt! Aufgeschoben ist eben nicht aufgehoben, das beweisen die Wiener Festwochen – auch ein zweigeteiltes Festival kann ein großes Ganzes ergeben!
24. August bis 21. November 2021
■ Informationen: www.festwochen.at