... höre es mich sagen, laut und deutlich, da am Sandkasten: „Also Tom kann das schon!“ Tom kann das schon. Echt jetzt?
Tom ist neun Monate alt. Tom kann krabbeln, er kann babbeln. Er kann nicht laufen, kein Chinesisch, spielt nicht Oboe und außer bähbäh! und daa! kommt da nicht viel aus seinem Mund. Alles in allem: Objektiv betrachtet ist Tom wohl ein ganz normal entwickelter, neun Monate alter Junge. Objektiv. Und doch höre ich mich zu meiner Freundin Karen sagen, als sie davon erzählt, dass ihr ein Jahr alter Sohn gar keine feste Nahrung isst: „Also Tom kann das schon.“
Mein Kind kann das schon. Deins etwa noch nicht? Eltern konkurrieren, was das Zeug hält. Spielplätze werden zur Kampfzone – die Kombattanten (fast) immer versteckt hinter der freundlichen Maske. „Schau mal, Greta, der Leo hat noch einen Schnuller“, hört man da. Und: „Ach, so alt ist Finn schon? Und er läuft noch gar nicht? Ja … das muss ja nichts heißen …“ Oder: „Ach, Hannah trägt noch Windeln? Paulina ist schon lange trocken. Aber wir haben sie ja auch abgehalten …“
Warum tun wir Eltern das? Warum machen wir uns das ohnehin anstrengende Leben noch anstrengender? „Erziehung bedeutet Unsicherheit“, sagt die Psychologin Sandra Jankowski, Mitglied beim Bundesverband Deutscher Psychologen (BDP). Die unzähligen Ratgeber zum Thema machen die Sache nicht besser: „In dem einen heißt es, dass das Kind, wenn es schreit, sofort getröstet werden sollte, und in dem anderen Ratgeber, dass es lernen sollte, sich allein zu beruhigen.“ Heißt: Die Unsicherheit wächst dadurch oft nur noch mehr. „Unser Wissen beruht auf Erfahrung, wie wir erzogen worden sind, was wir bei anderen beobachtet haben und was uns andere über ihre Erziehungserfahrungen berichtet haben“, erklärt Jankowski. Wie Erziehung funktioniert, das lernen wir erst, wenn es so weit ist: „Das ist uns nicht in die Wiege gelegt worden.“ Unsicherheit ist die logische Folge.
Ein zweiter Grund, so die Psychologin: der gesellschaftliche Druck. „Das fängt schon im Sandkasten an. Eltern müssen sich ständig rechtfertigen, warum sie dies oder jenes erlauben oder auch verbieten. Ihre Erziehungsautorität wird ständig angezweifelt.“ Andauernd mit dieser Unsicherheit zu leben, dass wir als Eltern angefeindet werden können, das sei anstrengend. „Und dann ist es schön, wenn man herausstellen kann, dass es genau in diesem Punkt bei uns in der Erziehung bisher funktioniert hat.“ Also präsentiert man stolz das Prachtexemplar Kind und spielt so seine Unsicherheit herunter.
Jankowski hat recht: Erziehung ist anstrengend, Rechtfertigen ist anstrengend. Konkurrenzkämpfe sind anstrengend – und Unsicherheit auch. Deswegen wollen wir in diesem Ratgeber zeigen: Es gibt nicht nur einen „richtigen“ Weg. Es gibt viele richtige Wege – wichtig ist, den für sich richtigen Weg zu finden und andere, genauso richtige Wege nicht zu verurteilen. Eben weil das Leben mit Kindern auch ohne Konkurrenzkämpfe anstrengend genug ist. Mein erster Schritt: Nie wieder „Tom kann das schon“ sagen. Versprochen, Karen.
Illustration: Line Severinsen/ www.kosogkaos.no